Bildung
Kinder von Einwanderern haben es schwer an deutschen Schulen. Sie schaffen es nur selten auf das Gymnasium.
Einer ragt heraus. Ufuk, 13, ist größer, stärker und lauter als seine Mitschüler aus der 7b des St.-Anna-Gymnasiums in München. Die 31 Pubertierenden haben wegen Bauarbeiten im Keller Quartier bezogen, dem pädagogischen Blick jenseits des Unterrichts entrückt. "Eine schwierige Klasse", sagt die Lehrerin. Ufuk ist einer von vier Schülern mit Migrationshintergrund, der einzige Türke, der einzige Moslem, der einzige, der über den Umweg Hauptschule hierhin kam. Sein Vater, der Einwanderer, backt Semmeln, nicht mehr Fladenbrot. Wie seine drei jüngeren Geschwister ist Ufuk in München geboren. Dennoch wirkt er auf diesem Gymnasium unter überwiegend aus bürgerlichen Elternhäusern stammenden Schüler fremd. "Er ist am Rande integriert", sagt die Lehrerin. Andererseits haben ihn seine Mitstreiter zum Klassensprecher gewählt.
"Ich will nicht als Bettler enden", sagt Ufuk. Deswegen hat er sich so angestrengt in der fünften Klasse der Hauptschule, die immer mehr als Reste- und Versagerschule gilt: In manchen Bundesländern besucht sie nur noch jeder Fünfte, nur jeder Vierte ergattert mit dem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz; von den 700.000 muslimischen Schülern - das entspricht fünf Prozent der gesamten Schülerschaft - gehen drei Viertel auf die Hauptschule.
Ufuk gehört zu den 14 Prozent, die in Bayern den Sprung aufs Gymnasium schaffen. Er möchte einmal Patentanwalt werden. "Das hört sich doch anders an als Bäcker, soll Spaß machen und viel Geld bringen." Seine Klassenlehrerin ist skeptisch. Er hängt in Deutsch und Englisch hinterher. "Da muss noch einiges passieren", sagt sie. Ufuk hat Glück, dass die Eltern hinter ihm stehen. Die Türkische Gemeinde in Berlin, in der 300 Vereine zusammengeschlossen sind, hat eine Bildungsoffensive gestartet. Ziel ist, Eltern dafür zu gewinnen, sich stärker in den Schulalltag einzubringen. "Sie müssen Präsenz zeigen. Die Schule allein reicht nicht aus", sagt die bildungspolitische Sprecherin, Berrin Alpbek. Das Vertrauen sei bei vielen verloren gegangen; spätestens seit der zweiten PISA-Studie. In keinem OECD-Staat haben es danach Migrantenkinder so schwer wie in Deutschland.
Wenn Schulleiter oder Wissenschaftler über die Ursachen der Schüler-Schwierigkeiten sprechen, geht es vornehmlich um Chancengleichheit und Anerkennung, weniger um den Glauben. Sport, Sexualunterricht und Klassenfahrt ließen sich in der Regel mit den Eltern streng gläubiger Schülerinnen besprechen. Einigkeit herrscht auch weithin, dass Schulen mit starkem muslimischem Anteil Islamunterricht anbieten müssen. Zudem soll die Macht der Koranschulen, in die etwa zehn Prozent der Schüler gehen, geschwächt werden. Erfolgversprechende Modellversuche laufen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern.
Es ist die Institution Schule, die diskriminiert. Das hat schon vor PISA die Münsteraner Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Gomolla herausgefunden. Beurteilungen und Einstufungen folgen vielfach starren Handlungskalkülen und gehen selten auf individuelle Fähigkeiten ein. Solche Verfestigung durch das System wird seit Mitte der 1990er-Jahre beobachtet. Laut Gomolla wäre es ein erster Schritt, wenn die Lehrer selbst mehr über Rolle und Tun und eigene Spielräume nachdenken würden.
Bildungsökonom Ludger Wößmann von der Ludwig-Maximilians-Universität in München sieht als entscheidendes Manko die frühe Aussortierung an. Seine Forschungen haben ergeben, dass sich der Einfluss sozialer Herkunft mit längerer gemeinsamer Schulzeit abschwächt. Bislang existieren nur in Berlin und Brandenburg sechsstufige Grund- schulen.
Einer Chancengleichheit stehen aber nicht nur die Herkunft aus sozial schwachen Elternhäusern im Weg, sondern auch fehlende Sprachkenntnisse. Dem versucht ein Programm der Bund-Länder-Kommission abzuhelfen. FÖRMIG (Förderung von Kindern und Jungendlichen mit Migrationshintergrund) soll Ausdrucksfähigkeit und Verständnis erhöhen. Es ist projektbezogen und für Kooperationen zwischen Schulen, Betrieben und Familien gedacht. Wissenschaftlerin Gomolla befürwortet darüber hinaus eine Sprachförderung, die an den Schulen von der ersten bis zur letzten Klasse eingerichtet werden sollte.
Für die Kölner Bundestagsabgeordnete Lale Akgün (SPD) sind Sprachprobleme auch schichtenspezifisch begründet. Sie hält nichts davon, wenn Migrantenfamilien angehalten werden, nur noch deutsch zu sprechen. Sie träumt von Schweizer Verhältnissen: "Wer Weltmeister im Export ist, sollte polyglott auftreten können."
Devrin ist schon weiter als Ufuk. Er ist 18 und wird im nächsten Jahr wohl das Abitur bestehen. Seine Eltern stehen bei BMW am Fließband und helfen in einer Großküche aus. Er hat sich nie benachteiligt gefühlt, was vielleicht damit zusammenhängt, dass seine Noten immer gestimmt haben. Devrin möchte Bauingenieur werden. Dann würde er die Familientradition fortsetzen, nur auf höherem Niveau: Ende der 1960er-Jahre hatte die Bundesrepublik seinen Opa aus dem türkischen Teil Kurdistans als Bauarbeiter angeworben.