Karriere
Vom Begriff »muslimische Elite« wollen die Erfolgreichen nichts wissen: »Was soll das sein?«
Er hat es geschafft. So sieht es jedenfalls aus, wenn man Özcan Mutlu an seinem Arbeitsplatz sieht. Das Berliner Abgeordnetenhaus ist ein preußischer Politikpalast mit halligen Gängen, Marmorboden und XXL-Türen. Vielleicht passt er zu dem Bild, das Mutlu von Deutschland hatte, als er als Kind von der Türkei nach Deutschland im Koffer seiner Mutter per Flugzeug einreiste. "Deutschland ist über den Wolken", glaubte der 5-Jährige damals, und tatsächlich hat er hier zwar nicht den Himmel erreicht, aber einen respektablen Aufstieg: Vom Kreuzberger Gastarbeiterkind zum dunklen Anzugträger. Zu einem, der mit entscheidet, wie es mit diesem Land weiter geht. Özcan Mutlu ist Landtagsabgeordneter bei den Grünen. Und seit seinem grünen Bundestagskollegen und derzeitigen Europaabgeordneten Cem Özdemir hat sich die deutsche Öffentlichkeit an Muslime in Führungspositionen gewöhnt.
Tatsächlich aber sind muslimische Mitbestimmer - trotz steigender Tendenz - noch immer unterrepräsentiert. Das gilt für ganz Europa. Die Dänin Jytte Klausen hat in der Studie "Europas muslimische Eliten" nachgezählt: Von den 15 Millionen Muslimen in Europa haben es nicht mal 30 in nationale Parlamente geschafft.
Vertrauter als die Bilder türkisch- oder afghanischstämmiger Politiker sind der Mehrheitsgesellschaft die kleinen Jungen aus den Kreuzberger Hinterhofkoranschulen, die auswendig Koranverse abspulen, die sie nicht verstehen. Nicht zuletzt aus solchen Bildern speist sich das bildungsfeindliche Image einer patriachalen, anti-aufklärerischen Religion. Das in Teheran geborene grüne Bundestagsmitglied Omid Nouripour ärgert sich über solche Klischees: "90 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund sind im letzten Kitajahr angemeldet, aber man schaut immer nur auf die anderen zehn Prozent."
Das Vorurteil vom bildungsfeindlichen Islam ist auch für den türkischstämmigen Regisseur Neco Celik, der gerade an den Münchener Kammerspielen das Stück "Ausgegrenzt" inszeniert, ein Ärgernis: "Der Islam befiehlt Bildung sogar. Es gibt eine Koranstelle, in der heißt es: Suche Bildung, auch wenn du bis nach China gehen musst!" Aber Celik sagt auch, dass der Islam sich bewegen muss: "Wir haben keine Diskussionskultur, und in den vergangenen 200 Jahren hat es keine nennenswerte Evolution gegeben."
Islam und Karriere, so viel steht fest, schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Obwohl man erwarten könnte, dass mit höherer Bildung die Religiösität sinkt, gaben in der Studie von Jytte Klausen 80 Prozent der Befragten an, dass sie religiös sind. Allerdings verändert sich der Glaube mit zunehmendem Erfolg: Die eng nationalistische Auslegung des Islam, die von Imamen in Deutschland so häufig gelehrt wird, spielt kaum noch eine Rolle. Stattdessen wenden sich die Gläubigen der Idee einer universalen, islamischen Gemeinschaft, der Umma, zu.
Yasemin Karakasoglu, Professorin für interkulturelle Bildung an der Uni Bremen, bestätigt: "Die Religion ist auch für Karriere orientierte muslimische Jugendliche wichtig für die Identitätsbildung, aber sie suchen eher nach einem universalen Deutungscode." Gleichzeitig warnt sie vor Vereinfachungen: "Für viele junge Muslime verhält es sich aber auch genau anders herum. Da entsteht aus den engen religiösen Regeln und Moralvorstellungen heraus erst der Wunsch sich in der Mehrheitsgesellschaft zu integrieren." Und dann gibt es natürlich noch diejenigen, die zwar Muslime sind, denen Religion aber nicht wichtig ist.
Özcan Mutlu kann deshalb mit dem Begriff "muslimische Eliten" nichts anfangen: "Wer soll das sein? Ich bin qua Geburt Moslem, ich gehe aber nicht mal in die Moschee. Ein praktizierender Moslem bin ich jedenfalls nicht." Austreten aus ihrer Glaubensgemeinschaft können Muslime anders als Christen übrigens auch nicht. Özcan Mutlu ist überzeugt: "Die Religionszugehörigkeit ist, was die Aufstiegsmöglichkeiten anbelangt, viel weniger wichtig als die ethnische Zugehörigkeit."
Türke ist nicht gleich Afghane ist nicht gleich Iraker ist nicht gleich Palästinenser. Entscheidend für den gesellschaftlichen Aufstieg ist vielmehr, ob es sich um Flüchtlinge handelt oder um Menschen aus Anwerbestaaten. Aus politischen Gründen konnten bis vor wenigen Jahren, bevor ein internationales Schlepperbusiness entstand, fast ausschließlich die Wohlhabenden ihr Land verlassen. So ist zum Beispiel nach der iranischen Revolution vor allem die Elite ins Exil gegangen: Ärzte, Ingenieure, Architekten und Naturwissenschaftler. Noch heutet arbeitet ein Großteil der Deutsch-Iraner in diesen Branchen.
Die Situation der Türken ist eine gänzlich andere. Eine große Zahl der Einwanderer stammen aus Ostanatolien, verfügen nur über eine schwache Bildung. Die Forschung spricht gar von einer "Unterschichtung" der deutschen Gesellschaft durch Gastarbeiter. Ein Problem, das sich verstetigt hat - oder verstetigt wurde, indem man die zweite Generation der Zuwanderer oft in fast reine Ausländerklassen steckte. Dadurch war der gesellschaftliche Aufstieg so gut wie verbaut.
So hat es auch Seyran Ates erlebt. Dass sie am Ende eine der bekanntesten Anwältinnen der Republik wurde, sagt sie, "das war zu 90 Prozent Glück und zu zehn Prozent Eigenleistung". Glück, dass sie in der 7. Klasse in eine deutsche Schule geschickt wurde und Abitur machen konnte. Seyran Ates sagt, dass es von den türkischen Kindern vor allem die schaffen, die ohnehin schon einen privilegierten Hintergrund hatten: "Ich kenne niemanden, der es aus dem Ghetto in den Bundestag geschafft hat." Diese Privatempirie bestätigt Yasemin Karakasoglu von der Universität Bremen: "Ein privilegierter Hintergrund ist symptomatisch für die, die wir als Eliten bezeichnen."
Welche Fähigkeiten braucht man außer Bildung noch, um sich in der Mehrheitsgesellschaft durchzusetzen? Zu wissen, dass Anderssein auch etwas Positives ist, sagt Omid Nouripour. Glück, sagt Seyran Ates. Ein Elternhaus, das Bildung und Freiräume ermöglicht, sagt Yasemin Karakasoglu, und vor allem gute Netzwerke - auch mit Nicht-Muslimen. Der Wunsch, dazu zu gehören und akzeptiert zu werden. Deshalb reagieren die meisten auch allergisch auf den Begriff "muslimische Eliten".
Seit 50 Jahren leben Muslime in Deutschland; 50 Jahre hat sich kaum jemand für ihre Religion interessiert und jetzt wird sie als Distinktionsmerkmal entdeckt. Selbst der Regisseur Neco Celik, der oft über seine persönliche Wiederent-deckung des Islam spricht, ist von dem Etikett "Muslim" genervt: "Das ist doch seit dem 11. September ein politischer Begriff."
Dennoch könnte die Zukunft für junge Muslime in Deutschland rosiger aussehen als ihre Vergangenheit. Wenn das, was sie mitbringen nicht mehr als Nach-, sondern als Vorteil gesehen wird: Interkulturelle Kompetenzen und Mehrsprachigkeit. In der Wissenschaft gilt es schon lange als gesichert, dass eine Gesellschaft von ihrer ethnischen und religiösen Durchmischung kulturell und wirtschaftlich profitiert. Yasemin Karakasoglu bestätigt: "Es gibt einen Wandel des Diskurses, man sucht zunehmend nach Menschen mit interkulturellen Biografien."
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.