glaube und Vernunft
Der Islam im säkularen Europa
"Der Islam kennt keine Aufklärung." So lautet ein Standardsatz, wenn die Frage nach der Vereinbarkeit islamischer Lebensführung mit europäischen Werten auftaucht.
Die Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne und mit dem damit verbundenen Säkularismus als einer Theorie der Zurückdrängung der Religion ins Private ist für Muslime nicht neu. Sie setzte im Nahen Osten bereits im frühen 19. Jahrhundert durch den Kolonialismus ein. Die Wurzeln des so genannten Islamismus sind hier zu finden, wenn die Rückkehr zum Islam der goldenen Frühzeit als Lösung proklamiert wird. Es findet sich aber auch der Beginn einer Selbstsäkularisierung muslimischer Gesellschaften, die an rationalistische theologische und philosophische Traditionen muslimischen Denkens im 8. bis 11. Jahrhundert anknüpft. Möglicherweise sind die Re-Islamisierung und der Islamismus auch ein Reflex auf die faktische Säkularisierung muslimischer Gesellschaften.
Die Geistes- und Sozialwissenschaften beginnen seit einiger Zeit, die bis dato herrschende Meinung, der europäische Weg in die säkulare Moderne sei das unausweichlich universale Muster geschichtlicher Entwicklung, kritisch zu hinterfragen und über die Begründung und Herleitung von wissenschaftlichen Konzepten und Begriffen zu streiten. Viele nicht-westliche Wissenschaftler lehnen diese als eurozentrisch oder zu stark christlich geprägt ab.
Im deutschen Kontext geht es natürlich nicht um abstrakte Dinge, sondern vielmehr um die Frage, wie deutsche Institutionen und Werte auf einen islamischen Begriff gebracht werden können. Die deutsche Politik und Gesellschaft verlangt hier meist - so die muslimische Wahrnehmung - die bedingungslose Unterordnung der Muslime, was von diesen als die Zumutung der Aufgabe wesentlicher Aspekte ihrer Religion gesehen wird. Manche Muslime reagieren mit einer "Islamisierung", das heißt sie versuchen, deutsche Institutionen und Werte islamisch zu begründen und - gestützt auf den Koran und die Prophetentradition - die problemlose Vereinbarkeit des Islam mit ihnen aufzuzeigen.
Andere empfinden dies als eine unnötige Übung. So schlug kürzlich der Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüs (sie wird als verfassungsfeindlich eingestuft) vor, zum Beispiel Demokratie und Soziale Marktwirtschaft als gute Realisierungen muslimischer Werte anzuerkennen, auch wenn beides nicht von Muslimen erdacht worden sei. Auf eine eigene theologische Begründung dieser Institutionen wird also bewusst verzichtet. Dies ist ein deutlicher Schritt zur Integration. So treten Muslime, auch Millî Görüs, als religiöse und ethnische Minderheit neuerdings vehement für den Schutz von allgemeinen Freiheitsrechten ein und bewahren so also elementare europäische Errungenschaften und beginnen ihre weitverbreitete Opfermentalität zu überwinden. Außerdem versuchen sie, alternative Begründungen, zum Beispiel für Religionsfreiheit, in die Debatte einzubringen. Diese werden sehr kontrovers wahrgenommen, sind aber nicht per se irrational und vernunftwidrig. All dies steht für Versuche, eine neu ankommende Religion in Theologie und Glaubenspraxis in einem säkularen Staat zu beheimaten. Erst wenn die deutsche Gesellschaft dem Islam als Religion Raum gibt, wird sich das säkulare Konzept der Moderne in Deutschland zugunsten aller Religionen und Weltanschauungen entfalten können.
Der Autor ist Islamwissenschaftler und Leiter des Kompetenzzentrums Orient-Okzident an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.