Familiengeschichte
Die Eltern sind das Trauma der Migration nie losgeworden. Eine Tochter erinnert sich.
Zwei Zimmer, Küche, Bad, verteilt auf 35 Quadratmeter: Es ist eine kleine, aber komfortable Wohnung, in der Hüseyin Topçu jetzt wohnt. Der Vater nennt sie "mein Reich", und die Tochter freut sich, dass er sich durchschlägt als Witwer in Hannover, der Stadt, in die er vor fast 35 Jahren aus der Türkei umgesiedelt war. Jung und gesund war er damals, alt und krank ist er heute. Vater leidet an Diabetes, seine Sehkraft lässt nach, er kann kaum mehr lesen. Das aber ist eine der Lieblingsbeschäftigungen des 72-Jährigen. Noch immer kauft er täglich die türkische Zeitung und behilft sich mit einer Lupe. Tagsüber geht er in die Moschee, nicht nur zum Beten, sondern auch, um mit Freunden und Bekannten zu plaudern - wie früher. Ohne die Männer von der Moschee wäre er einsam. Abends sitzt der Vater vorm Fernseher und zappt durch die Kanäle, je nach Programmangebot bleibt er bei einem deutschen oder türkischen Sender hängen.
Wenn sich die Tochter den Vater so ganz allein in seiner Wohnung vorstellt, dann plagen sie Schuldgefühle. Hat er nicht einen schöneren Lebensabend verdient? Er wünscht sich nicht nur insgeheim, dass eine seiner drei Töchter ihn versorgt, wenn er nicht mehr allein leben kann. Die familiäre und berufliche Situation der Töchter erschwert es allerdings, den Vater aufzunehmen. Die Schwestern hoffen, dass er möglichst lange in seinem "Reich" bleiben kann. Vor einem Pflegeheim in Deutschland graust es ihm und grauste es die Mutter; ihr ist es erspart geblieben, sie starb vor zwei Jahren. Die Töchter werden mit schlechtem Gewissen leben, sollten sie den Vater in einem Pflegeheim untergebracht haben. Ihr Verhalten ist unvereinbar mit den Werten ihrer Herkunftskultur, die ihnen die Eltern vermittelt haben.
Wie so viele Emi-granten kamen auch Hüseyin Topçu und seine Frau Zülal hierher, weil sie keine Pers-pektive in ihrer Heimat sahen. Deutschland suchte Arbeitskräfte, diese Nachricht hatte auch in der Kleinstadt in der Westtürkei die Runde gemacht. Ohne finanzielle Sorgen wären die Eltern in dem Örtchen am Meer geblieben.
Die Mutter machte sich 1972 als erste auf den Weg, sie ließ Mann und ihre sieben, neun und zwölf Jahre alten Töchter zurück, um in einer Schokoladenfabrik zu arbeiten. Das war durchaus üblich damals. Die deutsche Wirtschaft brauchte Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre mehr Frauen als Männer. Also wurden Gastarbeiterinnen angeworben. Ehefrauen, Mütter und Töchter verließen für eine bessere Zukunft ihrer Familie die Heimat. "Pioniermigrantinnen" heißen sie heute in der wissenschaftlichen Literatur.
Den Rest ihrer Familie holte Zülal Topçu ein Jahr später nach. Kein Wort Deutsch konnten die Eltern, als sie hier ankamen, und auch sonst wussten sie nichts über Deutschland. Sprachlos waren anfangs auch die Töchter, doch sie lernten schnell. Im Gegensatz zu den Eltern. Die Mutter konnte selbst nach drei Jahrzehnten nur sehr schlecht Deutsch. Sie kam ohne diese Sprache zurecht, hatte ja kaum Begegnungen mit Einheimischen; sie war Hausfrau geworden, als ihr Mann zu arbeiten begann. Er wiederum hatte zwar mehr Kontakte, aber keine Freundschaften zu Deutschen. Vater war hier Lehrer für muttersprachlichen Unterricht. In den 25 Berufsjahren lernte er etliche deutsche Kollegen kennen, es blieb bei flüchtigen Bekanntschaften.
Wollten die Eltern - wie es türkischen Einwanderern oft unterstellt wird - keinen Kontakt zu Deutschen? Wenn sich die Möglichkeit ergab, wenn Mutter Interesse spürte, dann redete sie drauf los, ließ sich nicht abhalten von ihren rudimentären Sprachkenntnissen. Die Mutter liebte es, zu kochen und Gäste zu bewirten, und sie hätte gewiss auch deutsche Gäste empfangen. Es kamen aber keine. Wie viel Kummer es dem Vater machte, dass sich aus den Gesprächen im Lehrerzimmer nicht mehr entwickelte, erfuhr die Tochter erst nach dessen Pensionierung.
Die Eltern hatten einen großen türkischen Freundeskreis und kauften am liebsten in türkischen Geschäften ein, lebten also in der "ethnischen Nische" und träumten immerzu von der Heimat.
Heute erahnt die Tochter, warum die Eltern nie heimisch in diesem Land wurden, Mutter nur ungern allein aus dem Haus ging und Vater Zuflucht in der Moschee suchte. Weil sie sich überall fehl am Platz fühlten, weil sie ihr Fremdsein nicht aushielten und mit ihrem Fremdsein nicht konfrontiert werden wollten. Vater und Mutter suchten aus gutem Grund die Nähe zu Landsleuten, unter ihresgleichen fühlten sie sich sicher, sie wurden angenommen, so wie sie waren, mussten sich nicht belehren lassen und nicht rechtfertigen für dies und das; sie konnten sich darauf verlassen, dass ihre Werte und Normen nicht entwertet und ihre Erfahrungen geschätzt wurden.
Als Jugendliche und auch später noch war die Tochter wütend auf die Eltern, die sich so gar nicht auf Land und Leute einließen. Und sie ärgerte sich, weil sie oft die Position der Erwachsenen übernehmen und sie sie an der Hand nehmen musste, wenn etwa Behördengänge anstanden. Welches Kind hat schon gerne schwache Eltern?
Viele Jahre vermied die Tochter Begegnungen zwischen den Eltern und ihren deutschen Freunden. Sie hätte nicht zugeben können, dass sie sich für die Eltern schämte, dass sie ihr peinlich waren. Heute hat sie Verständnis für sie. Schließlich waren sie nicht gekommen, um zu bleiben. Wie die meisten Gastarbeiter lebten die Eltern hier in der Annahme, nach ein paar Jahren mit dem Ersparten zurückzukehren. Anfangs blieben sie, um Schulden abzubezahlen; später, weil ihre Töchter hier die Schule besuchten und eine Rückkehr unvernünftig gewesen wäre; noch später blieben sie, weil sie nicht fern von ihren Töchtern und Enkelkindern sein wollten.
Nach Vaters Pensionierung entschlossen sie sich schließlich zurückzukehren und ließen sich in Antalya nieder. Mutter war Anfang 60 und Vater Mitte 60, als sie sich an der Südküste in einer Eigentumswohnung für den Lebensabend einrichteten. Schon ein paar Monate nach der lang ersehnten Heimkehr spürten sie, dass sie zu Fremden im eigenen Land geworden waren. Den Eltern war entgangen, dass sich in all den Jahren auch die Türkei und die Menschen dort verändert hatten. Der Vater beklagte sich über Handwerker, die sich nicht an Vereinbarungen hielten, über Autofahrer, die keine Verkehrsregeln beachteten, und er fühlte sich von lärmenden Anwohnern gestört. Die Mutter wiederum vermisste die Besuche von Nachbarinnen, so wie sie es von früher kannte. Als "Deutschländer" waren sie nicht besonders gut angesehen in der Heimat, die Leute mieden sie und die Händler hauten sie übers Ohr. So oft es möglich war, suchten sie das Weite, reisten zu den Töchtern nach Deutschland.
Beim letzten Besuch in Deutschland erlitt die Mutter einen Schlaganfall und starb kurz darauf. Ihre letzte Ruhestätte hat Zülal Topçu in Hannover. Noch ist es nicht selbstverständlich unter türkischen Einwanderern, Familienangehörige in "fremder Erde" zu bestatten; neun von zehn Toten werden in die Türkei überführt. Die Töchter wollten aber das Grab der Mutter in ihrer Nähe haben, also entschieden sie sich für eine Bestattung auf dem muslimischen Grabfeld des städtischen Friedhofs.
Den Töchtern ist ihr Herkunftsland zum Urlaubsland geworden, sie bereisen es gern und regelmäßig und wundern sich, wenn sie von Deutschen gefragt werden, ob sie wieder in die Heimat zurück wollten. Sie sind in Deutschland heimisch geworden, im Gegensatz zu den Eltern.
Für Hüseyin und Zülal Topçu war die Übersiedlung nach Deutschland weitaus mehr als nur ein Ortswechsel. Das Trauma der Migration sind sie nicht losgeworden. Das weiß die Tochter heute und ist nicht mehr wütend auf sie. Auch die Enttäuschung ist gewichen. Stattdessen ist da Dankbarkeit.
Dafür, dass Vater und Mutter in Deutschland nicht die besten Bedingungen hatten und vieles als unwirtlich empfanden, haben sie ihr Leben doch gut gemeistert, denkt sich die Tochter heute. Immerhin haben sie ihren Kindern ermöglicht, zu studieren und etwas aus ihrem Leben zu machen. Das versuchen sehr viele Einwandererfamilien, auch bildungsferne. Etliche Töchter und Söhne könnten Ähnliches über ihre Eltern berichten. Doch davon ist wenig zu hören und zu lesen. Wenn die Rede ist von türkischstämmigen Einwanderern und ihren Nachkommen, dann geht es überwiegend um ihre Verfehlungen. Die wirklichen Ursachen der Abgrenzung und Abschottung, die sie zu Problemfällen in dieser Gesellschaft machten und macht, bleiben häufig außen vor.
Anfangs waren die Eltern überfordert mit den hiesigen Lebensumständen, später waren sie verunsichert, dann gekränkt durch empfundene Ablehnung. So geht es vielen aus ihrer Generation. Aber auch etliche ihrer Nachkommen haben das Gefühl, hier nicht willkommen und anerkannt zu sein. Darauf reagieren sie mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien. Junge Männer kultivieren beispielsweise ihr Machogehabe oder berufen sich auf ihre ethnische Herkunft: Sie sind stolz darauf, dass "in ihren Adern türkisches Blut fließt". Weil sie in dem Dilemma stecken, weder Türke zu sein noch Deutscher sein zu dürfen. Denn es wird ihnen vermittelt, dass sie nicht Deutsche sein können, nicht mit dem Namen, nicht mit dem Aussehen.
Manche finden den Ausweg aus dem Identitätsdilemma im Islam. "In meinem Glauben habe ich eine Heimat gefunden", dieser Satz fällt immer wieder, wenn Nachkommen türkischer Einwanderer zu ihrer Identität befragt werden. Dass ihre Religion als Bedrohung empfunden wird, kränkt diese jungen Menschen wiederum und bestätigt sie zugleich in ihrem Grundgefühl, unerwünscht in ihrem Geburtsland zu sein. Andere wiederum suchen Ankerkennung über den beruflichen Erfolg; diesen Weg schlugen die Topçu-Töchter ein.
Es brauchte nicht viel, um den Vater nach dem Tod der Mutter davon zu überzeugen, wieder in Deutschland zu leben. Das 180 Quadratmeter große "Reich" in Antalya, in das die Eltern all ihr Erspartes investiert hatten, ist unbewohnt. Die Schwestern schieben es vor sich her, die vollmöblierte Wohnung aufzulösen.
Die Mutter liegt in einem Doppelgrab, dort will auch der Vater bestattet werden. Am Ende ihres Lebens werden beide ein Teil der Erde dieses Landes sein. Immerhin.