JEAN-JACQUES DORDAIN
Für den ESA-Chef dient die Raumfahrt einem besseren Leben auf der Erde
Herr Dordain, die ESA hat in jüngster Zeit große Erfolge gefeiert. Ich denke da an die spektakuläre Titan-Landung. Der Start des Columbus-Labors zur ISS ist für Januar 2008 vorgesehen. Wie stark ist Ihr Selbstbewusstsein gewachsen?
Wir treten nie selbstbewusst auf, denn Raumfahrt ist ein riskantes Geschäft. Wir gehen Risiken ein, weil sich nur so Fortschritte erzielen lassen. Selbstbewusstsein verträgt sich nicht mit Risikomanagement. Was sich geändert hat, ist der Blick der anderen Partner auf die ESA, und das ist viel wichtiger. Am 14. Januar 2005 sind wir auf dem Titan gelandet. Zehn Tage später hatte ich eine Sitzung mit meinen Amtskollegen aus den USA, aus Japan, Russland und Kanada. Als ich den Raum betrat, war etwas in ihrem Blick anders als zuvor. Nicht in ihrem Blick auf mich - ich war hässlich wie immer -, sondern in ihrem Blick auf die ESA: Ihr Vertrauen in uns hatte sich geändert. Jeder will mit der ESA zusammenarbeiten. Wir sind nicht die größte Raumfahrteinrichtung der Welt, aber wir sind mit Sicherheit die, auf die sowohl in technischer als auch in politischer Hinsicht Verlass ist.
Im neuen Wettlauf im All drängen sich aufstrebende Staaten wie China und Indien zwischen die etablierten Raumfahrtnationen. Wo steht Europa?
Wir nehmen bei zahlreichen Weltraumaktivitäten eine Spitzenposition ein: Wir umrunden heute Venus und Mars, wir sind auf dem Titan gelandet, wir jagen Kometen hinterher und bereiten den Start zum Merkur vor. Und wir investieren zweifelsohne am meisten in die Geowissenschaften und die Überwachung der Umwelt. Mit "Envisat" haben wir den bisher größten Umweltsatelliten gestartet. Hinzu kommt unsere Führungsposition bei den kommerziellen Startdiensten. Die Bereiche, in die es bei weitem nicht soviel investiert wie die anderen, sind Verteidigung und Sicherheit sowie die bemannte Raumfahrt. Insbesondere bei der Verteidigung hinken wir weit hinterher.
Mit welchen Folgen?
In Europa ist die Nutzung des Weltraums für Verteidigungszwecke sehr begrenzt: Einige Länder haben solche Programme, darunter auch Deutschland, aber bisher gibt es keine europäische Verteidigungspolitik als solche. Hier müssen wir ansetzen. Sobald eine gemeinsame Verteidigungspolitik aus der Taufe gehoben ist, wird sie Weltrauminfrastrukturen benötigen. Denn Verteidigung beginnt mit dem Sammeln von Informationen, und der einzige Weg zur weltweiten Sammlung und Verteilung von Informationen führt über den Weltraum. Ein kleiner erster Schritt ist getan: Der Weltraumrat, eine gemeinsame Tagung des EU-Rates und des ESA-Rates, hat die europäische Raumfahrtpolitik genehmigt. Darin ist zum ersten Mal von Raumfahrt und Verteidigung die Rede. Auf dieser Grundlage prüfen wir, wie wir Sicherheitsanforderungen in künftige ESA-Programme einbauen können.
In der bemannten Raumfahrt bereiten Sie die Offensive vor: Sie wollen gemeinsam mit den Russen ein Raumschiff bauen. Wird es bald ein Gegenshuttle zur amerikanischen Orion-Flotte geben?
Wir haben eine Arbeitsgruppe mit der russischen Weltraumbehörde Roskosmos eingerichtet, um die Entwicklung eines neuen Mannschaftstransportfahrzeugs zu prüfen. In den nächsten zwölf Monaten werden wir sehen, ob wir in der Lage sind, ein solches Fahrzeug gemeinsam zu entwerfen und ob Interesse an einer gemeinsamen Entwicklung besteht. Ob es entwickelt wird oder nicht, wird auf der nächsten ESA-Ministerratstagung im November 2008 beschlossen.
Wie zuversichtlich sind Sie?
Der Erfolg hängt nicht nur von uns ab, sondern auch von Russland; es herrscht also eine doppelte Unsicherheit. Ich glaube jedoch fest an den Bedarf an einem solchen Fahrzeug: Erstens würden wir es für die Exploration einsetzen. Und wie wir aus unseren Erfahrungen mit der ISS gelernt haben, war einer der größten Fehler der, sich auf nur ein Transportsystem zu verlassen. Hat die amerikanische Shuttle-Flotte Startverbot, haben alle Partner Startverbot. Wenn wir ein Explorationsprogramm in die Wege leiten, brauchen wir zwei voneinander unabhängige Transportsysteme. Da die USA mit "Aries" und "Orion" ein System entwickeln werden, muss das andere von anderer Stelle kommen.
Alleine kann es Europa noch nicht?
Für ein rein europäisches Mannschaftstransportsystem ist aus budgetären und industriellen Gründen die Zeit noch nicht reif. Als erstes muss also festgestellt werden, ob wir mit den Russen etwas machen können, um europäische Kapazitäten aufzubauen. Dafür brauchen wird die Unterstützung der Mitgliedstaaten.
Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) bereitet seine erste eigene Mondmission vor. Man will ein attraktiver Partner für die NASA werden, die bald wieder Astronauten auf den Trabanten schickt. Werden die Deutschen damit nicht zu Konkurrenten der ESA?
Zunächst dies: Mir liegen keinerlei Andeutungen für feste Pläne der Deutschen vor, in Zusammenarbeit mit den USA einen Menschen zum Mond zu schicken. Was ich jedoch sagen möchte, ist Folgendes: Deutschland ist der stärkste und treueste Unterstützer der ESA. Es stellt 80 Prozent oder mehr seiner gesamten Raumfahrtinvestitionen der ESA zur Verfügung. Ich bin daher zuversichtlich, dass Deutschland auch zu künftigen ESA-Programmen, darunter das Shuttle, den Löwenanteil beitragen wird. Ob ich richtig liege, wird sich herausstellen. Die im Rahmen des deutschen Weltraumprogramms durchgeführten Tätigkeiten sind ergänzender Natur; von Konkurrenz kann keine Rede sein.
Plagen musste sich die ESA im vergangenen Jahr mit Galileo, in der EU wurde heftig über die Finanzierung gestritten. Warum brauchen wir das Programm?
Wir alle benutzen GPS-Empfänger, und das GPS-System steht unter der alleinigen Kontrolle der US-Militärs. Wenn die US-Militärs, aus welchem Grund auch immer, GPS über Europa abschalten müssen, werden sie es tun. Der Fall ist ja schon eingetreten, als es Probleme auf dem Balkan gab. Alle Flugzeuge in der Luft verlassen sich auf GPS. Galileo könnte noch genauere Daten für das Landen von Flugzeugen liefern. Aber Galileo kann noch viel mehr als Navigation und Ortung: Das System wird präzise Zeitsignale rund um den Globus senden, was beispielsweise für die Börsen immer wichtiger wird. Die Dienste eines Weltzeit-, Ortungs- und Navigationssystems bergen ein riesiges kommerzielles Potenzial.
Neben dem Aufbau von Galileo - was sind Ihre wichtigsten Missionen in diesem Jahr?
Der Start des unbemannten Raumschiffs ATV im Januar. Das Columbus-Labor und das ATV sind die Prioritäten schlechthin. Seit 20 Jahren, seit ich bei der ESA bin, habe ich auf den Beginn des Columbus-Programms gewartet. 2008 stehen weitere Meilensteine an: Mit GOCE und SMOS werden wir die ersten einer Reihe von Erdforschungssatelliten in den Weltraum befördern; die beiden Envisat-Nachfolger werden die Erforschung unseres Planeten fortsetzen und insbesondere sein Schwerefeld, seinen Wasserzyklus und seine Bodenfeuchtigkeit unter die Lupe nehmen.
Und mit Herschel und Planck haben wir zwei einzigartige Missionen, die einen tiefen Blick in den Weltraum werfen werden, um neue Erkenntnisse über Schwarze Löcher und die Entstehung von Galaxien zu gewinnen.
Herr Dordain, Sie haben Ihr ganzes Leben in den Dienst der Raumfahrt gestellt. Was ist für Sie das Faszinierendste am Weltall?
Am stärksten fasziniert mich all das, was wir für den Planeten Erde tun. Der Traum von der Raumfahrt ist ein irdischer Traum. Was wir im Weltraum tun, dient einem besseren Leben auf der Erde - vor allem auf lange Sicht. Den Weltraum besiedeln werden wir in naher Zukunft wohl nicht. Aber die Erde könnte ohne die Hilfe aus dem Weltraum sehr viel unbewohnbarer werden.
Das Interview führte Thomas Schmidt. Er arbeitet als Korrespondent für die
Nachrichtenagentur ap in Paris.