KRAFTWERKE
Lokale Widerstände untergraben die bundesweit angelegte Energiepolitik
Der Schweizer Bazillus grassiert. Der hochkochende Streit um Kohlekraftwerke vermittelt fast den Eindruck, als sei die Einführung der plebiszitären Demokratie nur eine Frage der Zeit. Im mecklenburg-vorpommerschen Lubmin fordern eine Bürgerinitiative und der ehemalige Landtagspräsident Hinrich Kuessner (SPD) eine lokale Volksabstimmung über den vom dänischen Konzern Dong Energie betriebenen Bau eines Kohlemeilers mit 1.600 Megawatt (MW). Im niedersächsischen Dörpen verlangen Gegner eines Kohlekraftwerks ebenfalls eine Bürgerbefragung. Daniel Schily kritisiert, dass der Gemeinderat von Lünen ein Referendum über die Errichtung einer solchen Anlage abgelehnt hat. Der Landesgeschäftsführer des Vereins "Mehr Demokratie", der sich für mehr plebiszitäre Elemente in der Politik einsetzt, plädiert dafür, in Nordrhein-Westfalen endlich Bürgerentscheide über Kraftwerke zu ermöglichen.
Losgetreten hat diese "Lawine" (Joachim Pfeiffer von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) ein Fall im Saarland: Im kleinen Ensdorf lehnten bei einem Volksentscheid 70 Prozent den Bau eines Hafens ab, der wegen eines 1.600-MW-Kraftwerks erforderlich gewesen wäre. Gerade mal 2.800 Nein-Sager haben aus Sorge vor Umweltbelastungen eine von der CDU-Mehrheit im Gemeinderat unterstützte Zwei-Milliarden-Euro-Investition von RWE verhindert. Vom Ensdorfer Referendum erhofft sich Markus Tressel, Geschäftsführer der Saar-Grünen, eine "bundesweite Strahlkraft". Es mutet durchaus urdemokratisch an, wenn Bürger über den Bau von Kraftwerken in ihrem Ort befinden können - oder wenn dies zumindest Kommunalparlamente tun. Doch ist das wirklich demokratisch? Ob in Ensdorf, Lubmin, Dörpen, Lünen, Karlsruhe, Mainz, Hamburg oder an anderen Standorten, wo Bürgerinitiativen wegen des Klimaschutzes gegen Kohlekraftwerke mobil machen: Diese Anlagen haben nicht nur einen lokalen Stellenwert, sondern sind im Blick auf Elektrizitätsversorgung, Strompreis und Umweltbelange von bundesweiter Bedeutung. Es gehe eigentlich nicht an, meint Rolf Hempelmann, Energiepolitiker der SPD-Bundestagsfraktion, dass "einige Tausend Bürger solch folgenreiche Beschlüsse fassen".
Von einem "Dilemma" spricht Pfeiffer, eine "schwierige Gemengelage" konstatiert Gudrun Kopp (FDP). Hans-Kurt Hill von der Linksfraktion nimmt die Energiekonzerne ins Visier: "In Ensdorf hat RWE gegenüber der Bevölkerung viel Arroganz an den Tag gelegt. So kann man das heute nicht mehr machen." "Wenn Ensdorf Schule macht", fürchtet der Saarbrücker CDU-Landtagsabgeordnete Martin Karren, "könnten immer mehr große Infrastrukturprojekte unterbunden werden."
Umweltverbände zielen darauf ab, über die Verhinderung einzelner Kohlekraftwerke den vom Bundestag verabschiedeten Emissionshandel auszuhebeln. Die neuen Anlagen blasen trotz modernster Technik gewaltige Mengen Kohlendioxid in die Luft, bei 1.600 MW etwa acht Millionen Tonnen jährlich. Republikweit wird diese Schadstoffabgabe indes nicht gesteigert, da der Kohlendioxidausstoß im Zuge des Emissionshandels insgesamt sinken muss und deshalb alte Kohlekapazitäten stillgelegt werden müssen. Doch dem Öko-Lager gehen die erlaubten Höchstmengen zu weit: Eine "massive Bevorzugung von neuen Kohlekraftwerken im Emissionshandel" kritisiert Angelika Zahrnt, Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz.
Aber auch Öko-Energien stehen im Kreuzfeuer. Über das Erneuerbare-Energien-Gesetz will der Bundestag die Stromproduktion mit Wind, Sonne und Biomasse massiv ausweiten. Vielerorts verhindern jedoch Proteste den Bau von Rotoren, in Baden-Württemberg etwa stehen nur wenige Windmühlen. Ein Ausweg sind Offshore-Projekte in der Nordsee: Kopp ist freilich überzeugt, "dass sich dann Widerstand gegen die dafür nötigen Überlandleitungen auf dem Festland regen wird". Zuweilen formiert sich schon gegen Solarkraftwerke Gegenwehr. Im badischen Mahlberg machen Rathauschef, Gemeinderat und eine Bürgerinitiative gegen ein Holzkraftwerk Front.
Hempelmann sieht eine "gewaltige Kommunikationsaufgabe" darin, Neubauvorhaben in den Gesamtzusammenhang von Klimaschutz, Versorgungsgarantie und Strompreisen zu stellen. Natürlich müsse es Bürgerbeteiligungen geben, doch die gesamtstaatliche Verantwortung dürfe nicht untergraben werden. Für Hill lassen sich übergeordnete und lokale Belange durchaus vereinen. In Ensdorf, so der Linkspolitiker, hätten viele Einwohner über ein kleineres Kraftwerk durchaus mit sich reden lassen: "Man muss die Betroffenen beteiligen, etwa bei der Anlage eines Windparks, um so eine Win-Win-Situation für alle Seiten zu schaffen."
Die Energiepolitik, meint Gerald Häfner, Bundesvorstandssprecher von "Mehr Demokratie", sei eine gesamtstaatliche Aufgabe. Doch der Bau einzelner Kraftwerke bedürfe der Ztimmung vor Ort. Ihre eigene Sicht der direkten Demokratie haben die Grünen. Es gehe nicht um das "Wie" der Entscheidungen, betont Fell, sondern um wirksame Klimapolitik. So fordern die Grünen lokale Volksabstimmungen über Kohlekraftwerke. Wenn allerdings Gegner von Rotoren Bürgerbefragungen verlangen, sagt Fell, "dann argumentiere ich gegen jene, die derart den Bau von Windrädern verhindern wollen".