Die Alterung unserer Gesellschaft wirkt sich seit etwa 1980 so aus, dass es in fast jeder erweiterten Familie zu jeder Zeit ein Alterspflegeproblem gibt, das die Angehörigen völlig verunsichert, ja überfordert. Denn das bisherige, einhundert Jahre bewährte, zweipolige Hilfesystem - die Pflege in der Wohnung oder im Altenpflegeheim - erweist sich als zunehmend unbrauchbar: In der eigenen Wohnunggeht es oft nicht mehr und in ein Pflegeheim wollen immer weniger alte Menschen. 1
Spätestens seit 1980 lässt sich nicht mehr leugnen, dass alle Bürger unserer Gesellschaft von diesem Problem betroffen sind - ein Betroffenheitsgrad, der etwa bei den Problemen geistig Behinderter oder psychisch Kranker nie erreicht wird. Wir müssen folglich, wenn wir das Problem lösen wollen, in eine neue, eine andere Gesellschaft hineinwachsen - wie gern oder ungern auch immer.
Diese andere Gesellschaft hat einen so großen gesamtgesellschaftlichen Hilfebedarf, wie es ihn nie zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte gab. Denn ironischerweise hat uns der medizinische Fortschritt gleich drei, in ihrer Größe menschheitsgeschichtlich neuartige und zugleich hilfe- wie kostenintensive Bevölkerungsgruppen beschert: erstens die Alterspflegebedürftigen und Dementen, zweitens die körperlich chronisch Kranken und drittens diejenigen, die ich dieNeo- oder Pseudo-Psychisch-Kranken nenne: die so genannten Befindlichkeits- und Persönlichkeitsgestörten. Letztere fielen vor 30 Jahren fast alle noch in die Normalverteilung menschlichen Lebens. Da sie sich im Zuge der Vervierfachung der psychotherapeutischen Anbieter ebenfalls vervierfacht haben, müssen sie heute - gewissermaßen als Kunst- oder Marktprodukt - mit dem Etikett "psychisch krank" und seinen Folgen leben: häufiger zu ihrem Nachteil als zu ihrem Vorteil. Und was die Alterspflegebedürftigen betrifft, so hat sich allein schon die Demenz, die uns allen widerfahren kann, derart ausgeweitet, dass von einer neuen menschlichen Seinsweise zu sprechen ist, zumal ab dem 93. Lebensjahr die Dementen die Mehrheit der Bevölkerung stellen, während die Nicht-Dementen nur noch eine abweichende Minderheit sind.
Niemand kann von sich oder anderen erwarten, heute schon zu wissen, wie das Leben in der Zukunft aussehen wird. Das ist ebenso belastend wie reizvoll. Aber einiges wissen wir doch:
1. Das alte einhundertjährige Hilfesystem der Moderne mit seinen zwei Prinzipien der Professionalisierung und Institutionalisierung des Helfens ist - so tragfähig es in der Vergangenheit war - heute unbrauchbar oder zumindest unzureichend. Es muss in ein neues Hilfesystem überführt bzw. umgekehrt werden.
2. Die Institutionalisierung des Helfens muss einer Deinstitutionalisierung weichen. Zum einen sind wir dazu heute bereits gesetzlich verpflichtet und zum anderen kann praktisch niemand mehr das Heim wollen: Statt die Menschen zur Hilfe, gilt es, die Hilfe zu den Menschen zu bringen.
3. Die Professionalisierung des Helfens muss zum einen quantitativ deprofessionalisiert werden, weil ihre weitere lineare Expansion dem Ziel der Integration entgegensteht und sich wegen der hohen Kosten als unmöglich erweist. Nur so lassen sich die wirklich segensreichen und unersetzlichen Kerne des professionellen Helfens dauerhaft finanzieren. Hinzu kommt eine qualitative "Umprofessionalisierung": Die ausgebildeten Helfer können künftig nicht mehr alles selbst tun; stattdessen müssen sie andere - die Bürger - mobilisieren und beim Helfen begleiten. Daraus ergibt sich:
4. Die einzige freie und verfügbare Ressource ist die Zeit der Bürger; das heißt alle Bürger (nicht nur die Ehrenamtlichen) werden künftig in ihrem Wochenzeitbudget nicht nur Arbeitszeit und Freizeit, sondern auch Sozialzeit vorsehen müssen, wie dies bis zum Beginn der Moderne in allen Kulturen ohnehin der Fall war.
5. Indem auf diese Weise zur Abdeckung des explodierenden gesamtgesellschaftlichen Hilfebedarfs das Bürgerteilsystem des Helfens dem professionellen Teilsystem einen Teil des Helfens weg- und damit wieder zu sich zurücknimmt, kann das zu erfindende neue Hilfesystem zukunftsfähig werden: Es wird also - als neues Prinzip - stets ein "Bürger-Profi-Mix" sein, egal, ob die Bürger oder die professionellen Helfer das wollen oder nicht.
Das Erstaunliche ist nun, dass wir Bürger in der Breite längst damit begonnen haben (ebenfalls schon 1980), unser Verhalten an den expandierenden gesamtgesellschaftlichen Hilfebedarf anzupassen - noch bevor die politisch Verantwortlichen auch nur gewagt hätten, so weit zu denken oder gar Forderungen zu formulieren. Alle denkbaren Messinstrumente belegen seit 1980 einen tiefgreifenden kulturellen Wandel der Einstellungen und des Verhaltens der Bürger: Sie zeigen nicht weniger, sondern wieder mehr soziales Engagement.
Einige Beispiele seien angeführt: Seit 1980 (nicht vorher) kam es zu einem Anstieg der Zahl der Freiwilligen und der Nachbarschaftsvereine, zur Hospizbewegung, zur Aidshilfekultur und zur Selbsthilfegruppenbewegung, zur Wiederentdeckung der Bürgerstiftungen, der Familienpflege (jetzt auch für Alterspflegebedürftige), zur Stabilisierung der 70 Prozent jener Familien, die ihre Alterspflegebedürftigen ungeachtet verschlechterter Bedingungen selbst pflegen, zur Ausweitung der neuen Bewegung des generationsübergreifenden Siedelns sowie zum Boom ambulanter Stadtviertel-Wohnpflegegruppen. Ob die Halbierung der Suizidzahlen seit 1980 auch hierzu gehört, sei dahingestellt.
Es ist also von einer neuen sozialen Bürgerhilfebewegung auszugehen. Dabei handelt es sich nicht um einen sozialromantischen Wunschtraum, sondern um ein schlichtes und belastbares Faktum. Diese Bewegung ist zwar noch weitgehend ohne Bewusstsein ihrer selbst, aber sie stellt eine gute Basis für die Entwicklung eines neuen Hilfesystems des "Bürger-Profi-Mixes" dar.
Ich habe in den letzten zehn Jahren - in Feldforschung - versucht, die Gemeinsamkeiten der unendlich vielen, lokalen Bürgerinitiativen dieser neuen Bürgerbewegung herauszufinden, um sie zugleich besser miteinander zu vernetzen. 2 Dabei hat sich gezeigt, dass es sich bei diesem "Wunder gegen den Zeitgeist" - Gemeinwohl- statt Eigennutz- und Marktorientierung - nicht um eine idealistische Verklärung, sondern um eine höchst realistische "Einsicht in die Notwendigkeit" (wie Hegel "Freiheit" definiert) handelt. Meine bisherigen Ergebnisse sind folgende:
1. Immer mehr Bürger leiden an zuviel sinnfreier Zeit. Im Durchschnitt beträgt der Anteil der Freizeit 65 Prozent; bei manchen liegt sie natürlich darunter, dafür beträgt sie bei Menschen im dritten Lebensalter oder bei Langzeitarbeitslosen 100 Prozent. Nun kann zwar die Zunahme freier Zeit durchaus genossen werden, aber das ist nur bis zu einem Optimum möglich. Jenseits davon schlägt der Genuss in Leiden um. Statt der heute vom Markt gern angebotenen Psychotherapie ist dann zunächst ein gewisses Maß an "sozialer Erdung": eine individuell unterschiedliche Tagesdosis an Bedeutung für Andere erforderlich, um die übrige freie Zeit nicht fremd-, sondern selbstbestimmt genießen zu können. Diese Reihenfolge ist nicht umkehrbar. Es scheint also in allen Menschen auch ein mal kleineres, mal größeres Helfensbedürfnis (über die eigene Familie hinaus) objektiv zu geben.
2. Immer mehr Menschen machen die Erfahrung, dass man heute nicht nur an körperlich-motorischer oder sozial-moralischer Überlastung, sondern auch an Unterlastung körperlich oder psychosozial erkranken kann.
3. Nicht wenige Menschen sind wegen der Verknappung der Erwerbsarbeit zu ihrer finanziellen Absicherung auf einen Zweit- oder Drittjob angewiesen. Dem kommt der wachsende gesellschaftliche Hilfebedarf entgegen. Im Unterschied zu den ehrenamtlichen Helfern bisherigen Typs haben die neuen Bürgerhelfer oftmals neben einem Zuviel an freier Zeit, zugleich ein zu geringes Einkommen. Sie bilden den neuen Bürgertyp des sozialen Zuverdieners oder des Semiprofessionellen; sie geben nicht nur Zeit, sondern nehmen auch Geld.
4. Nach den stabilen Ergebnissen des Emnid-Instituts ist nicht nur ein Drittel der Bürger sozial aktiv, ein zweites Drittel antwortet auf die entsprechende Frage: "Ich kann mir das schon gut vorstellen; bloß hat mich doch noch niemand gefragt!" Wir Menschen sind also offenbar so "gestrickt", dass wir weder unser eigenes Hilfebedürfnis, noch unser eigenes Helfensbedürfnis gern öffentlich vorbringen. Es bedarf dazu eines Anstoßes von außen: Folglich gilt es, die Realisierung dieses Bedürfnisses flächendeckend zu organisieren. Anders: Wenn ich für irgendetwas zu wenige Bürgerhelfer habe, werde ich mit der Methode des Klinkenputzens etwa bei jeder dritten Klinke fündig.
5. Der bisher wichtigste Beitrag der Bürgerhilfebewegung zum neuen Hilfesystem besteht jedoch in der Wiederbelebung des "dritten Sozialraum": Es handelt sich dabei um den Raum zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sozialraum: um das Stadtviertel, die Dorfgemeinschaft oder die Nachbarschaft, mithin um den "Wir"-Raum, der 1 000 bis 10 000 Einwohner umfasst. Diesen "dritten Sozialraum" gab es in allen Kulturen bis zum Beginn der Moderne; er war lebensnotwendig für den Hilfebedarf, mit dem eine Familie überfordert ist, für Singles, die keine Familie haben, sowie für alle Prozesse der Integration, auch jener von Migranten. 100 Jahre lang haben wir geglaubt, dass dieser Raum dank des Fortschritts nicht mehr erforderlich sei, jetzt erkennen wir, dass dies ein Irrtum war.
Das Wirkgeheimnis des "dritten Sozialraums" besteht darin, dass ich als Bürger die Aufforderung, für alle Hilfsbedürftigen da zu sein, als Überforderung ablehne, während ich mich auf die Verantwortung für "mein" überschaubares, streng begrenztes Viertel eher einlassen kann, weil das ja "unsere" Hilfsbedürftigen sind. Insofern ist der "dritte Sozialraum" der einzige Ort, an dem eine Synchronisation von Bürgerhilfe und professioneller Hilfe möglich ist - vitale Voraussetzung für den "Bürger-Profi-Mix". Der "Pflegestützpunkt" im neuen Entwurf des Pflegegesetzes greift erstmals das Potenzial des "dritten Sozialraums" auf: die Selbstorganisation der neuen Bürgerhelfer.
Von den zahlreichen bürgerschaftlichen Experimenten, dritte Wege zwischen Wohnung und Heim für den wachsenden Hilfebedarf zu finden, möchte ich ein Beispiel herausgreifen: die oben erwähnten ambulanten Stadtviertel- oder Dorfwohnpflegegruppen. Ich habe mich für dieses Beispiel entschieden, weil diese Wohngruppen, von denen es derzeit in Deutschland etwa 500 gibt, bislang die besten Chancen haben, verallgemeinerbar und damit in gesellschaftlichen Maßstab versorgungsrelevant zu werden. Dies wird allerdings nur dann der Fall sein, wenn sie sich für alle Pflegebedürftigen des Stadtviertels oder des Dorfes öffnen, ganz gleich, ob es sich um einen Demenzkranken, einen 20-jährigen Hirntraumatiker, einen geistig Behinderten oder psychisch Kranken, einen Körperbehinderten oder ggf. auch einen im Wachkoma liegenden Menschen handelt. Das widerspricht zwar der tradierten Sicht der professionellen Helfer, der Wissenschaft und vor allem der Verwaltung, es entspricht dafür aber dem Bedürfnis der Menschen: Kein Dementer, Hirntraumatiker oder Wachkomatiker - wie auch kein rundherum gesunder Bürger - möchte seinen Alltag in einer Monokultur verbringen: Je kleiner und damit zwischenmenschlicher und integrationsfreundlicher der Unterstützung gewährende soziale Raum ist, desto weniger ist Spezialisierung und desto mehr die Allzuständigkeit der Bürger wie der professionellen Helfer gefragt, was gleichermaßen für die Beratung gilt (Experten nur im Hintergrund).
Weil das alles für uns, an instituationalisierte und professionalisierte Hilfe gewöhnte Bürger neu und fremd ist, schildere ich die ambulante Viertelwohnpflegegruppe - ganz praxisbezogen - indem ich mich an die wesentlich Beteiligten - an die Pflegebedürftigen, die Angehörigen, das professionelle Pflegepersonal, die Bürger des Stadt- oder Dorfviertels, die Wohnungsbaugesellschaften und die Kommunen - wende und sie von der neuen Wohnform zu überzeugen versuche:
1. Pflegebedürftige: "Weil es aus den oder den Gründen zu Hause nicht mehr geht, empfehlen wir Euch, in die ambulante Wohngruppe um die Ecke zu ziehen. Ihr verliert zwar die Vertrautheit Eurer Wohnung, aber nicht die Vertrautheit Eures Viertels. In der ambulanten Wohngruppe macht Ihr eigentlich dasselbe wie bisher in Eurer Wohnung. Auch die Wohngruppe ist als Haushalt zu führen, nur seid Ihr dafür nicht mehr allein zuständig, sondern gemeinsam mit anderen. Jeder trägt zum Funktionieren des Haushaltes soviel bei, wie er kann, jeder hat eine Aufgabe und kommt so zu seiner "Tagesdosis an Bedeutung" für Andere. Anders als im Heim werdet Ihr in der Wohngruppe irgendwann aus dem prallen, tätigen Leben heraus sterben. Wenn die Wohngruppe richtig organisiert ist, werdet Ihr bei niedrigeren Kosten zwei, dreimal mehr menschliche Zuwendung haben als im Heim."
2. Angehörige: "Wenn es zu Hause nicht mehr geht, mietet Ihr - gemeinsam mit anderen Betroffenen - Wohnraum für eine Wohngruppe. Ihr behaltet damit alles in eigener Regie; die Situation ist vergleichbar mit dem Altenteil der früheren Agrargesellschaft, nur dass es sich jetzt um einen Gruppenaltenteil handelt. Außerdem werdet Ihr mit Sicherheit Eure Verantwortung für das pflegebedürftige Familienmitglied nicht von 100 auf 0 Prozent herunterfahren wollen, sondern vielleicht nur auf 50, 30 oder 10 Prozent, was sich problemlos in der ambulanten Wohngruppe aushandeln lässt.
3. Professionelles Pflegepersonal: "Wenn Ihr darauf achtet, dass der Pflegebedarf in der ambulanten Wohngruppe so groß ist, dass sich die 24-Stunden-Präsenz finanzieren lässt, habt Ihr für das betreffende Viertel einen Stützpunkt. Von dem aus könnt Ihr nicht nur den Pflegebedürftigen in den umliegenden Wohnungen helfen, sondern auch allen hilfs- und pflegebedürftigen Bürgern des Viertels garantieren, im Notfall sowohl am Tag als auch in der Nacht in fünf Minuten zur Stelle zu sein. Dabei entfällt sogar weitgehend das leidige Wegekostenproblem. Und es gibt einen weiteren Vorteil: Eure Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden besonders motiviert sein, weil sie in der ambulanten Wohngruppe alle Besonderheiten des Pflegeberufs kennenlernen können, so dass sie sich in ein paar Jahren zu "Allround-Profis" qualifizieren können."
4. Bürger: "Bisher habt Ihr die Kultur Eures Viertels zum Beispiel an der Zahl der Kindergartenplätze gemessen; künftig wird die hinreichende Zahl von Pflegeplätzen im eigenen Viertel noch wichtiger sein." Die Bürger werden rasch erkennen, dass für sie und ihre Familien mit der Zahl der Pflegeplätze im Wohnviertel die Versorgungssicherheit für alle nur denkbaren Pflegerisiken zunimmt, und zwar dort, wo sie jetzt leben: wo sie hingehören. Schon aus diesem Grund werden sie sich gern zum Beispiel an der Absicherung der 24-Stunden-Präsenz oder an der Hauswirtschaft mit oder ohne Geld beteiligen. In Bielefeld haben die Bürger für die ambulante WG die Bezeichnung "Unser Pflegeherz" erfunden.
5. Wohnungsbaugesellschaften: "In der Vergangenheit habt Ihr versucht, die lästigen Pflegebedürftigen aus Euren Siedlungen loszuwerden; heute könnt Ihr Euch das nicht mehr leisten, weshalb Ihr Euch schon bei der architektonischen Planung der Häuser auf den zu erwartenden Pflegebedarf einstellen solltet: Erst dann seid Ihr gegenüber Euren Mietern glaubwürdig, diesen ein lebenslanges Wohnen bis zum Sterben für alle garantieren zu können."
6. Die Kommunen: "Da die Kommune insgesamt meist zu groß ist, müsst Ihr euch organisatorisch auf die "dritten Sozialräume" umstellen. Die bisher praktizierte bürokratische Spezialisierung (Jugend-, Alten-, Behindertenhilfe, Pflege, Eingliederung) solltet Ihr dem Sozialraumprinzip unterordnen und demensprechend auch das Beratungssystem - dies auch kostensparend - umstellen. Es wird auch schon überlegt, die Kommunalverwaltung um ein Amt für Nachbarschaft zu vervollständigen, wie das in den USA in vielen Städten schon seit jeher selbstverständlich ist. Die wichtigste Aufgabe der Kommune besteht aber darin, mindestens 20 Prozent der WG-Wohnungen oder -Häuser selbst als Vermieter zu tragen: Weil alle freien Träger zum Rosinenpicken neigen, ist die Kommune zur Garantie der Chancengleichheit verpflichtet."
Die ambulanten Wohngruppen werden unter anderem deshalb zu Recht "Pflegeherz" genannt, weil sie nicht nach dem Markt-, sondern nach dem Gemeinwohlprinzip tätig sind, und weil sie alle für die Lebendigkeit und Menschenfreundlichkeit eines Viertels Verantwortlichen an einen Tisch und zum gemeinsamen Handeln bringen. Träger einer ambulanten WG können sein: Angehörige, Nachbarschaftsvereine, Kirchengemeinden, die Wohnungswirtschaft, die Heime, sofern sie zukunftsfähig bleiben wollen, und die Kommunen.
Hinsichtlich der Versorgungsrelevanz ist für den städtischen Bereich derzeit Bielefeld mit der höchsten Dichte ambulanter Wohngemeinschaften der Spitzenreiter: Nach Berechnung der Akteure ist dort alle 500 Meter eine ambulante WG erforderlich, um die Vollversorgung zu gewährleisten, zumal alle Wohnungsbaugesellschaften und auch der größte Heimträger auf das neue Hilfesystem durch ambulante WGs umgestiegen sind; letzterer hat sich daher selbst einen Heimbaustop verordnet. Für den ländlichen Bereich hat der Landkreis Herzogtum Lauenburg in den letzten zwei bis drei Jahren zwölf ambulante WGs geschaffen und ausgerechnet, dass man für die 150 000 Einwohner für die Vollversorgung etwa 100 WGs benötigen würde.
Da wir erst am Anfang des Aufbruchs in die neue, andere Gesellschaft und in das neue Hilfesystem stehen, sind wir gut beraten, weiter zu experimentieren und die grob skizzierte Bewegung nicht durch allzu schnelle, wenn auch gut gemeinte Qualitätskontrollen zu lähmen. Dieses Instrument ist vielleicht für Institutionen, aber kaum für die freie Bewegung der Bürger im "dritten Sozialraum" geeignet. Es könnte durchaus sein, dass wir schon morgen andere, noch viel bessere dritte Wege zur Problemlösung des wachsenden Hilfebedarfs (er)finden werden. Dessen ungeachtet gilt: Die Zukunft hat schon begonnen, und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben.
1 Der Beitrag
basiert auf dem Buch des Autors: Leben und Sterben, wo ich
hingehöre, Neumünster 2007.
2 Die Ergebnisse sind zusammengefasst
in: Klaus Dörner, Leben und Sterben, wo ich hingehöre,
Neumünster 2007.