AKTIENKULTUR IN DEUTSCHLAND
Wie es sein könnte, wenn sich am Kapitalmarkt einiges verändern würde. Eine Traumreise ins Jahr 2018
Deutschland im Februar 2018: Der aus dem Deutschen Aktienindex Dax hervorgegangene Europäische Aktienindex Eax mit den führenden europäischen Unternehmen hat kurz vor der Jahreswende die Marke von 20.000 Punkten überschritten. Die Aktienanlage hat einmal mehr ihre langfristige Attraktivität bewiesen: Um durchschnittlich 9,5 Prozent pro Jahr ist der Dax in den letzten zehn Jahren gestiegen. Mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung verfügt über Aktien oder Anteile an Aktienfonds und partizipiert damit an dieser positiven Entwicklung - und ständig werden es mehr.
Zehn Jahre zuvor war die öffentliche Wahrnehmung der Aktienanlage noch großen Schwankungen unterworfen und hatte eine eher negative Tendenz: Die Bundesregierung hatte nämlich die Einführung einer Abgeltungsteuer auf alle Kapitalerträge ab 2009 beschlossen. Die Steuer stieß bei den Anlegern auf starke Ablehnung, da die Steuerbelastung auf Aktienerträge sprunghaft in die Höhe schnellen würde. Die Besteuerung auch der langfristigen Kursgewinne sowie die Abschaffung des Halbeinkünfteverfahrens versechsfachten die Besteuerungsbasis für Aktienerträge auf einen Schlag. Dass die nicht ausgeschütteten Unternehmensgewinne - die Grundlage der Kursgewinne - bereits versteuert waren, kümmerte in der Politik zunächst niemanden.
Die erkennbare Reserviertheit der Aktionäre in Deutschland wurde mit Verzögerung auch von der Politik wahrgenommen. Nach der Bundestagswahl 2009 besann sich die Bundesregierung wieder auf das Ziel der verstärkten Kapitaldeckung der Altersvorsorge. Zunächst senkte sie den Abgeltungsteuersatz von 25 auf 20 Prozent. Dies förderte die Effizienz des privaten Vorsorgesparens und reduzierte den Verwaltungsaufwand in den Finanzämtern, weil die meisten Anleger nun auf eine persönliche Veranlagung ihrer Kapitaleinkünfte bei der Einkommensteuererklärung verzichten konnten.
Danach verstärkte die Regierung die Anreize zur kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge, indem sie im Rahmen der immer populäreren Riester-Rente Vorgaben zur Streuung des ersparten Vermögens machte: Die volle Förderung konnte nur noch erreicht werden, wenn ein Teil der Ersparnisse in Aktien oder Anteile an Aktienfonds investiert wurden. Aufgrund dieser Regelung verdoppelte sich die Zahl der Aktionäre binnen weniger Jahre und fand damit Anschluss an das Niveau der Aktienakzeptanz in vergleichbaren Industrieländern. Weiterhin entschied sich die Regierung für die bewusste Förderung der Arbeitnehmerbeteiligung am Produktivvermögen. Bei der Gesetzesnovelle achteten die Ministerien darauf, dass es für Arbeitnehmer durch die Kapitalanlage im eigenen Unternehmen nicht zu einer Risikokonzentration kommen konnte. Viele Unternehmen nutzten die Chance, die Arbeitnehmer stärker zu motivieren, und gaben Belegschaftsaktien aus.
Das neue Interesse an der Aktie spiegelte sich auch in einer regeren Emissionstätigkeit am Kapitalmarkt. Der Gang an die Börse wurde für viele Unternehmen zu einer bevorzugten Form der Kapitalaufnahme. Die Zahl der börsennotierten Aktiengesellschaften verdoppelte sich innerhalb von zehn Jahren und überschritt 2015 erstmals seit den 1920er-Jahren wieder die Marke von 2.000. Der Verzicht auf ineffiziente Publizitäts- und Transparenzvorschriften machte es gerade mittelständischen Unternehmen einfacher, die Bedingungen der Börsenzulassung zu erfüllen. Allerdings waren die Anleger nach den Erfahrungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zunächst vorsichtig. Nur Unternehmen mit funktionierendem Geschäftsmodell oder zumindest einer sehr plausiblen Geschäftsidee hatten Chancen, Eigenkapital durch eine Neuemission aufzunehmen. Nach anfänglichem Zögern setzten auch die Privatanleger wieder stärker auf Neuemissionen und fuhren gut damit. Erleichtert wurde die Nutzung der Aktie durch eine weitere Vereinfachung und Verbilligung des Aktienhandels. Die Börsenorganisationen entwickelten immer leistungsfähigere Handelsplattformen und machten den Aktienhandel auch für Privatanleger attraktiver.
Den vorläufigen Abschluss der Kapitalmarktreformen bildete die Einführung eines Pflichtschulfachs Ökonomie an allgemeinbildenden Schulen, in dem es auch um Fragen der Geldanlage und Altersvorsorge geht. Seither ziehen immer mehr Eltern, die früher nur selten Berührung mit ökonomischen Fragen hatten, bei wichtigen Entscheidungen ihre Kinder und deren Lehrbücher zu Rate. Ein schöner Traum? Ja - aber er muss kein Traum bleiben. Politik und Gesellschaft haben es in der Hand, die Aktienakzeptanz nachhaltig zu fördern. Was immer noch fehlt, ist der politische Wille, die notwendigen Entscheidungen bald zu treffen.
Der Autor ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Aktieninstitutes in Frankfurt.