Gesellschaft
Michael Philipp erzählt die Geschichte der politischen Rücktritte. Nicht alle waren auch das Karriereende
Manche Rücktritte in der Demokratie erinnern an feudale Zustände. Es heißt dann, ein Politiker "dankt ab". So bei "Landesfürst" Lothar Späth, "König Kurt" Biedenkopf oder "Landesvater" Johannes Rau. Andere Rücktritte werden spontan vollzogen und erscheinen kaum zwingend, sie werden als "Davonlaufen" bewertet, zum Beispiel bei Oskar Lafontaine. Viele der von Michael Philipp unter dem Tiel "Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen" dargestellten Rücktritte in Deutschland waren auf Überdruss oder Resignieren zurückzuführen, die meisten waren Folgen von Affären oder Skandalen. Nur wenige Amtsträger entschieden autonom, sich aus der Politik zurückzuziehen. Einer von ihnen war der Bremer Bürgermeister Henning Scherf.
Es gab Rücktritte wegen Krankheit (der bayerische Ministerpräsident Hans Seidel), wegen Überforderung (der erste Bundestagspräsident Erich Köhler), Fehleinschätzungen (Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer), wegen Amtsmüdigkeit (Hamburgs Bürgermeister Klaus von Dohnanyi), wegen Berufswechsels (Kultur-Staatsminister Michael Naumann), wegen Verfehlungen (der Berliner Wirtschaftssenator Gregor Gysi) und es gab welche aus Altersgründen.
Diese Fälle mit ihren unterschiedlichen Motiven, Vorgeschichten, Begleitumständen hat der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Philipp dargestellt und bewertet. Material fand er reichlich. Immerhin sind in der Geschichte der Bundesrepublik rund 250 Politikerrücktritte zu registrieren. Sein Buch liest sich durchweg flüssig und stellenweise vergnüglich, doch hätten mehr Konzentration und Prägnanz nicht geschadet. Doch es bietet ein anschauliches Kaleidoskop der Rücktritte und eine saubere Phänomenologie der Rücktrittsgründe.
Vielen Politikern gelingt es nicht, die an sie gestellten hohen moralischen Ansprüche selbst zu erkennen, sondern sie halten sich für unentbehrlich und widersetzen sich einem Rücktritt so lange, bis ihnen der Posten entrissen werden muss. Als herausragendes Beispiel nennt Philipp den ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, der sich realitätsblind sträubte, als 87-Jähriger das Kanzleramt zu verlassen. Marion Dönhoff kommentierte in der "Zeit": "Selten nur werden die Starken von ihren Gegnern erledigt. Gewöhnlich gehen sie an ihren eigenen Fehlern zugrunde."
Ebenso erging es dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und zuvor Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Auch der baden-württembergische Regierungschef Erwin Teufel gehört in diese Kategorie, obwohl er handelte, bevor seine Partei ihn dazu zwang. Typisch ist für Philipp, dass Rückritten oft ein "hässliches, monatelanges Gezerre vorangegangen" ist.
Als vorbildlich stuft er den Rückzug von Außenminister Hans-Dietrich Genscher, kurz nach dessen 65. Geburtstag 1992, ein. Genscher bewies, dass ein Politiker, sogar auf dem Gipfel seiner Laufbahn, selbstbestimmt aufhören kann. "Demokratie bedeutet die Übernahme von Verantwortung in öffentlichen Ämtern auf Zeit", erklärte Genscher. Das klang fein, allerdings hatte er damals schon 23 Jahre der Bundesregierung angehört. Solche Größe zeige sich selten, es überwiegen "Geltungssucht und Kleinmut", meint Philipp.
Rücktrittsgründe sind vielfältig. Bundestagspräsident Philipp Jenninger musste wegen einer fatalen Rede gehen, Justizministerin Herta Däubler-Gmelin konnte wegen einer unbedachten Äußerung nicht im Amt bleiben. Der SPD-Vorsitzende Björn Engholm musste wegen einer politischen Torheit abtreten. Der Hamburger Bürgermeister Paul Nevermann konnte sich im Jahr 1965 wegen einer Affäre mit der Frau eines Unternehmers nicht halten - das wäre heutzutage undenkbar. Die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler trat aus Protest gegen Kontakte des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe mit der DDR-Stasi als Bildungsministerin zurück. Der Bremer Wirtschaftssenator Peter Gloystein verschwand, nachdem er einen Obdachlosen mit Sekt begossen hatte.
Und nach dem Rücktritt? Oft bedeutet ein Rücktritt nicht das Ende der Karriere, im Gegenteil. Die meisten bleiben in der Politik und steigen um, einige sogar wieder auf. So Birthler, die später als Leiterin des Bundesamts für die Stasi-Unterlagen ihrer Überzeugung und ihrem Steckenpferd nachgehen konnte. Oder der ehemalige Chef der hessischen Staatskanzlei, Franz Josef Jung, der in der Folge einer Parteispendenaffäre zurücktrat, bald danach aber Verteidigungsminister in Berlin wurde - den Fall Jung hat Michael Philipp übrigens merkwürdigerweise nicht erwähnt.
Philipp untersucht auch, warum einzelne Politiker im Amt blieben - trotz handfester Affären wie im Falle von Franz Josef Strauß und trotz Vorwürfen wie gegen Außenminister Joschka Fischer. Und er beschäftigt sich ausführlich damit, dass Rücktritte auch positive Wirkungen haben können. Letztlich plädiert Philipp sogar für eine "Rücktrittskultur", was freilich etwas idealistisch klingt.
Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen.
Süddeutsche Zeitung Edition, München 2007; 476 S., 19,90 ¤