Wolf
Isegrim ist nach 150 Jahren zurück in Deutschland. Die Rudelbildung ist nicht sein einziges Problem
Ilka Reinhardt hat keine Peilung. Doch das soll sich ändern. Im Wildbiologischen Institut Lupus, das Reinhardt mit Gesa Kluth im sächsischen Spreewitz betreibt, warten sechs nagelneue GPS-Geräte auf ihren Einsatz. Mit Hilfe des satellitengestützten Navigationssystems wollen die beiden Biologinnen Wölfen nachstellen. Ihr Ziel ist es herauszufinden, wohin es Jungwölfe zieht, wenn sie mit etwa zwei Jahren ihr elterliches Rudel verlassen. Mit den Sendern kann die Spur der Wölfe am Computer verfolgt werden - vorausgesetzt, es gelingt, die Peilgeräte an den Wolf zu bringen. "Das ist extrem schwierig, denn der Wolf ist ein Hasenfuß", sagt Reinhardt. Sprich: Er lässt sich selten sehen und noch seltener fangen.
"Früher oder später werden wandernde Jungwölfe in allen Bundesländern Thema sein", ist Gesa Kluth überzeugt. Im östlichen Sachsen und im südlichen Brandenburg, kurz vor der polnischen Grenze, ist schon Realität, was die 37-Jährige für die gesamte Republik erwartet: die Rückkehr Isegrims. Wobei das wirklich Neue ist, dass Wölfe nicht nur aus Polen über die Neiße kommen, sondern hier auch bleiben. "Im Jahr 2000 wurden in Deutschland erstmals wieder Wolfswelpen von einer in Freiheit lebenden Wölfin geboren", erzählt Reinhardt. Eine Sensation, denn 150 Jahre lang war der Wolf hierzulande ausgerottet.
Das Büro Lupus kümmert sich im Auftrag des sächsischen Umweltministeriums um die drei Rudel in der Oberlausitz mit insgesamt rund 30 Tieren: das Daubitzer und das Neustädter Rudel an der polnischen Grenze und das Nochtener Rudel etwas weiter westlich. In der Zschornoer Heide in Brandenburg lebt ein weiteres Wolfspaar, bislang aber ohne Nachwuchs, wie Reinhardt bedauert. Schätzungsweise zwei Dutzend Jungtiere seien in den Rudeln seit dem Jahr 2000 herangewachsen. Wo sie abgeblieben sind, ist unklar. Antworten soll die "Pilotstudie zur Abwanderung und zur Ausbreitung von Wölfen in Deutschland" geben, wie das vom Bundesamt für Naturschutz in Auftrag gegebene GPS-Projekt offiziell heißt. Bis Ende des Jahres 2009 ist die Finanzierung gesichert.
"Der Wolf ist ein echtes Familientier", schwärmt Kluth. Doch die Rudelbildung sei in Deutschland ein echtes Prob-lem. Als Wolfs Revier kommen zusammenhängende Naturflächen in einer Größe von 300 Quadratkilometer in Frage. Truppenübungsplätze wie der in der Oberlausitz sind ein ideales Refugium. Zur Familiengründung benötigt der Wolf - der monogam lebt - natürlich auch noch einen Partner. Dieser sollte möglichst nicht aus demselben Rudel stammen. Die deutschen Wölfe müssen daher vor allem auf weitere einwandernde Artgenossen aus Polen hoffen. Um den Partner fürs Leben zu finden, scheint einem einsamen Wolf kein Weg zu weit. "Bis zu 60 Kilometer können Wölfe in einer Nacht zurücklegen", so Kluth.
Ilka Reinhardt verflucht den milden Winter. Am besten lässt sich nämlich bei Neuschnee herausfinden, wo sich Wölfe aufhalten. Ein einziges Mal sei dies in den vergangenen Monaten gelungen, sagt die 41-Jährige. Sofort, nachdem sie in der Neustädter Heide Spuren im Schnee entdeckt hätten, sei der Ort "eingelappt" worden. Das heißt, mehr als 30 Helfer - unter ihnen Jäger und Waldarbeiter - kreisten die Wölfe mit einem fünf Kilometer langen lappenbehängten Zaun ein. Clou der Lappjagd ist, dass die scheuen Wölfe vor den Lappen aus Kunststoff und Baumwolle zurückschrecken und sich mit Fangnetzen einfangen lassen - zumindest in der Theorie. Denn in der Praxis seien ihnen die Burschen im wahrsten Sinne des Wortes "durch die Lappen gegangen", berichtet Reinhardt und fährt sich mit der Hand durchs halblange dunkelblonde Haar.
Dass der Wolf schlau ist und lernfähig dazu, kann Jana Schellenberger bestätigen. Die diplomierte Forstwirtin leitet das Kontaktbüro Wolfsregion Lausitz in Rietschen, rund 40 Kilometer südöstlich von Spreewitz, ebenfalls mitten im Wolfsgebiet gelegen. Bei Schellenberger klopfen nicht nur Wolfsfans an, um sich über Isegrim zu informieren, sondern auch diejenigen, denen die grau-braunen Raubtiere Schaden zufügen. Schäfer zum Beispiel. Ihnen hilft die 29-Jährige unter anderem, eine Entschädigung für gerissene Tiere zu bekommen. 57 Schafe waren es im vergangenen Jahr.
Schellenberger, mit Cordhose und grüner Jacke bekleidet, runzelt die Stirn. Bislang sei es recht einfach gewesen, Nutztiere vor Wolfsangriffen zu bewahren. "Ein 90 Zentimeter hoher Elektrozaun bietet einen guten Grundschutz", doziert sie. Kürzlich seien aber Schafe von Wölfen gerissen worden, obwohl ihre Herde auf umzäuntem Gelände stand. "Über einen Zaun zu springen, ist untypisch für einen Wolf", sagt Schellenberger, "er muss also dazugelernt haben."
Die folgenden Zeitungsberichte über den Riss hinterm Zaun lassen Jana Schellenberger leise seufzen, befeuern sie doch die Angst vorm Wolf. Denn trotz eines im Kino mit dem Wolf tanzenden Kevin Costners hat das Tier ein echtes Imageproblem. Es ist immer der Böse. Das Bild vom menschengefährdenden Ungeheuer sitze tief, stellt Schellenberger fest. Ihr Kampf gilt deshalb dem inneren Rotkäppchen. Bestehenden Befürchtungen könne "nur mit Fakten begegnet werden", ist die Forstwirtin überzeugt. Und so sind sie und einige freie Mitarbeiter des vom Land Sachsen finanzierten Kontaktbüros nahezu täglich unterwegs, um in Vorträgen, Exkursionen und Diskussionen Informationen über den "Canis lupus lupus" unters Volk zu bringen.
"Ich bin kein wolfsvernarrter Mensch", versichert Schellenberger, und ihre Stimme verlässt für einen Moment die naturwissenschaftlich-nüchterne Tonspur. Aber der Wolf sei nun mal "ein heimisches Wildtier" und habe als solches "hier ein Daseinsrecht". Eine "konfliktarme Koexistenz" sei möglich, "in anderen Ländern klappt das schließlich auch", schiebt sie mit Nachdruck hinterher. Die Furcht vor dem Wolf sei völlig unbegründet. Die Chance, Wölfe bei einem Waldspaziergang zu treffen, sei "gleich Null", sagt die 29-Jährige. "Sie gehen Menschen aus dem Weg."
Eine spezielle Zielgruppe sind für Schellenberger die Jäger. Viele Waidmänner witterten im Wolf eine Konkurrenz ums Wild, sagt sie. Nicht ganz zu Unrecht. Schließlich fresse ein erwachsener Wolf pro Jahr 62 Rehe, 14 Wildschweine und neun Rothirsche, referiert die Forstwirtin. Aber, auch hier hält sie eine Statistik bereit, pro Jahr und 100 Hektar erbeute ein ganzes Rudel lediglich 1,2 Rehe, 0,3 Wildschweine und 0,2 Rothirsche. Aufgrund von Jagd würden "drei bis vier Mal so viele Wildtiere zur Strecke gebracht".
Allerdings bringe der Wolf Unruhe in die Reviere, räumt Schellenberger ein. Das Wild werde unsteter. "Es reicht manchmal nicht mehr, einfach auf den Hochstand zu gehen und auf die Uhr zu schauen, wann der Bock kommt", sagt die 29-Jährige, die selbst einen Jagdschein besitzt. Die Jäger seien aber "keine homogene Masse, die den Wolf ablehnt", sagt Schellenberger. Bei manchen dauere das Umdenken eben etwas länger.
Nach DDR-Jagdrecht war der Wolf ganzjährig jagbar. Seit 1990 aber sind Wölfe nach den Bestimmungen des Naturschutzrechts streng geschützt und dürfen nicht abgeschossen werden. Das passiert dennoch immer wieder - in der Oberlausitz jüngst im August 2007. Auch der Deutsche Jagdschutz-Verband (DJV) verurteilte den Abschuss umgehend. Gegen rückkehrende Großsäuger sei nichts einzuwenden, betont der DJV-Vizepräsident Wolfgang Bethe und verweist auf ein kürzlich veröffentlichtes Positionspapier. Zugleich sagt der 60-jährige Tierarzt: "Auch Menschen müssen sich an rückwandernde Tiere gewöhnen." Wer die Akzeptanz des Wolfes etwa bei der Jägerschaft in Wolfsgebieten verbessern wolle, müsse beispielsweise über einen Fonds nachdenken, "aus dem Rissmeldeprämien gezahlt werden", fordert Bethe. Außerdem gehe es um die Frage, "wieviel Wolf will ich haben oder um es überspitzt zu formulieren: Muss er unbedingt auf dem Berliner Alexanderplatz herumlaufen?" Dies schließe die Frage nach einer Regulation ein, denn: "Natürliche Feinde hat der Wolf nicht."
Solche Überlegungen gehen Jana Schellenberger derzeit zu weit. "Das Überleben des Wolfes in Deutschland ist keineswegs gesichert", sagt sie. Das bestätigt Wildexpertin Ilka Reinhardt. "Rein rechnerisch könnte es mit der Verbreitung der Wölfe zwar schnell gehen." Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: "Aber nur, wenn der Mensch sie lässt."