Literarisches Debüt
Aliza Olmerts Roman über ein jüdisches Familienschicksal
In Manschija wird es schon um sieben Uhr dunkel - und die hölzerne Tür lässt sich noch immer nicht weiter öffnen. Stunden sind vergangen, seit die Umzugskisten vom Lastwagen abgeladen wurden, man hat sie vor dem Eingang zum Treppenhaus abgestellt, ihre Maße begutachtet und versucht, sie hineinzustoßen. Nun ist auch Vater bereit zuzugeben, dass keine der Kisten durch diesen Eingang passt." Mit diesen ersten Sätzen von Aliza Olmerts erstem Roman scheint der Radius des Buches vermessen. Dunkelheit wird ein Thema, das Hin- und Her-, auch das Mitschleppen wird in der Geschichte anwesend sein, ebenso wie die große Schwierigkeit, neu anzufangen, und das heißt auch auch, irgendwo sich an- und dort hineinzupassen.
Man könnte es noch anders sagen: Indem Aliza Olmert den Leser auf diese Weise eintreten lässt in ihren Roman, eröffnet sie gleichzeitig und mit geradezu klassischem poetischen Geschick zentrale erzählerische Motive.
Am Anfang der Handlung werden Bretterkisten auseinander genommen und es hat den Anschein, als habe jeder Nagel, der herausgezogen wird, "seine eigene Melodie". Eine Staubfontäne steigt auf und plötzlich meint man, die Nägel würden aus einem Sarg gezerrt, bis die Szene keinen Zweifel daran lässt, dass sich darin etwas anderes befindet, das aber nicht weniger symbolträchtig ist: Schachteln mit Schnallen, für militärische Uniformen gedacht. Dass Krieg und Vertreibung denn auch eine Rolle spielen und dass dies alles zwar persönlich und privat, doch dennoch exemplarisch für einen Zeitenlauf nachvollzogen wird, deutet die Metapher der Schnalle an. Olmerts Buch ist ein dicht gewebter Stoff, den sie mit autobiografischer Färbung behandelt. Indem ein jüdisches Familienschicksal kurz nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert wird, nimmt der Horizont von Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung den Mittelpunkt der Geschichte ein.
Da ist das Ehepaar Meller, das als polnische Juden das "Dritte Reich" überlebt hat und mit ihrer fünfjährigen Tochter nach Israel zieht. Da ist der Vater Olek, der davon träumt, mit jenen Wehrmachtsschnallen wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Da ist die Mutter Anuschka, die Depressionen ob der Trauer um die toten Verwandten plagen und die die "hysterische Freude über dieses neue Land" ganz und gar nicht teilen kann. Und da ist Alusia, aus deren Perspektive erzählt wird, die in der ersten Wohnung in einem ärmlichen Viertel Tel Avivs beinah an Typhus stirbt; denn obwohl es sich um einen früheren arabischen Festsaal handelt, gibt es Ratten, die das Mädchen keineswegs verschonen. Eine solche literarische Bildhaftigkeit ist an vielen Stellen des Buches präsent.
In welchem Ausmaß ein vermeintlich hoffnungsvoller Neubeginn scheitern kann: Auch davon handelt der Text der 1946 in einem Lager für "displaced persons" in Eschwege geborenen Aliza Olmert, die in Israel heute vor allem als bildende Künstlerin bekannt ist - und nicht nur, weil ihr Mann israelischer Ministerpräsident geworden ist. Stetes ohnmächtiges Ankämpfen in einem zwar "gelobten", doch "anderen" Land - nicht umsonst erinnert Olek an Kafkas K. - ist ein Gedanke, den diese Geschichte transportiert, ohne auf ein glückliches Ende zu verzichten. Der Vater findet Arbeit im Landwirtschaftsministerium und die Mutter eröffnet eine polnische Bibliothek und versammelt eine kleine Gemeinde um sich herum.
Und Alusia? Sie macht aus den vieldeutigen Schnallen, deren Schachteln auch als Mobiliar herhalten müssen - am Ende wiederum vielsagende Requisiten einer Schultheateraufführung. Während die dazu gehörigen Uniformen auf der Bühne liegen bleiben, findet das Mädchen doch noch ihr Glück in einem Blick auf ein Stück vom Meer, dessen Wellen über sie wie über ihre Lieben allzu stürmisch hereingebrochen sind, das aber für sie wie für alle, die sich in ihr spiegeln, weiterhin viel verspricht: Kein Dunkel, sondern gleißende Helligkeit.
Ein Stück vom Meer. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2007; 368 S., 19,95 ¤