ALLTAG
Das Sicherheitsdenken ist zum Reflex geworden. Stimmungsbericht einer Deutschen und ihrer Familie
Die meiste Zeit über fühlt sich eigentlich alles ganz normal an. Dann ist Tel Aviv ein Ort mit viel Lebensqualität. Die dynamische Wirtschafts- und Kulturmetropole ist eine der wenigen Großstädte, die direkt am Meer liegten. Es gibt unzählige Cafés und Bars, bevölkert von vielen jungen Leuten. Wer zum ersten Mal hierher kommt, staunt deshalb zuverlässlich, wie sehr sich die gefühlte Realität von jenem Kriegs-Image Israels unterscheidet, das im Fernsehen übertragen wird. Ich lebe sehr gerne in Tel Aviv und trotzdem weiß ich nie genau, wie ich der klassisch-sorgenvollen Frage begegnen soll, die mir oft am Telefon oder bei Reisen im Ausland gestellt wird: Ob es nicht gefährlich sei, nach Israel zu kommen, geschweige denn dort zu leben? Eines steht fest: Die Antwort ist, wie so vieles in diesem Land, komplex.
Denn bei der Beschreibung der hiesigen Sicherheitslage spielen viele Faktoren eine Rolle: Aktualität, Geografie und die persönliche Stimmung. Darüber hinaus gibt es Gefahren, die rechtzeitig abgewendet werden. Wie etwa der kürzlich aufgeflogene Plan palästinensischer Küchenangestellter, die Gift ins Essen der Kunden mischen wollten. Wenn im Radio vor einem Selbstmordattentäter gewarnt wird, der sich gerade im Großraum Tel Aviv aufhalten soll, und dann bei der nächtlichen Suche die Hubschrauber mit langen Lichtpegeln über der Stadt kreisen, ist das kein besonders angenehmes Gefühl, aber meist wird der potenzielle Attentäter tatsächlich gefasst. Eine solche Episode prägt dann zwar kurz die heimischen Schlagzeilen, aber das wars dann auch schon.
Vielleicht wirkt der Alltag auch deshalb so normal, weil das Sicherheitsdenken längst zu einem Reflex geworden ist. So gehören die Taschenkontrollen vor den Behörden, Museen, Einkaufszentren und Supermärkten einfach dazu. Ebenso, dass eine herrenlose Tasche auf dem Gehsteig bei den Passanten sofort Alarmstimmung auslöst. Die Polizei riegelt dann den Umkreis ab, bis ein Sprengstoffexperte das Objekt untersucht und gegebenfalls entschärft hat. Oft handelt es sich tatsächlich nur um eine Tasche. Aber das kann ja vorher niemand wissen.
Allerdings gab es auch schon andere Zeiten, als während der zweiten Intifada eine ganze Menge Bomben wirklich explodierten. Da horchte man dann nach jedem lauten Knall auf, um dann am Nachhall erleichtert festzustellen, dass bloß ein Flugzeug die Schallgrenze durchbrochen hatte. Andernfalls dauerte es nicht lange, bis die Sirenen von Polizei und Ambulanzen ein Attentat signalierten. Damals wurden vor den meisten Cafés und Restaurants Sicherheitsmänner stationiert, was manchmal zu absurden Überlegungen bei der Wahl des Lokals führte: Geht man in ein großes und gut besuchtes Kaffeehaus mit Sicherheitsmann, der im Notfall nicht viel ausrichten kann, dafür abschreckend wirkt, oder setzt man sich lieber in ein unbewachtes, fast leeres kleines Café, das sich wiederum als Zielscheibe nicht besonders lohnen würde? Jetzt sind die meisten Lokale längst wieder unbewacht, was ein Zeichen für entspanntere Zeiten ist. Zumindest in Tel Aviv.
Ganz anders in Sderot, wo seit vielen Jahren so regelmäßig Kassam-Raketen aus Gaza herunterprasseln, dass die Auslandsmedien kaum mehr Notiz davon nehmen. Aber in den israelischen Fernsehnachrichten ist der Beschuss von Sderot ein Dauerthema. In Sderot gehört es zum Alltag, beim Sirenenzeichen "roter Alarm" in Schutzräume zu laufen. An guten Tagen passiert das vielleicht nur einmal. An schlimmen Tagen kann sich das mehr als ein Dutzend Mal wiederholen. Aus purem Glück lässt sich die Zahl der Toten oder der schwer Verletzen an den beiden Händen abzählen. Aber die psychologischen Schäden, vor allem die Auswirkungen auf Kinder, die kaum mehr draußen spielen, sind umso schlimmer.
Was antworte ich meiner vierjährigen Tochter, die interessiert verfolgt, worüber die israelischen Fernsehnachrichten abends berichten, auf ihre Fragen: "Warum fallen diese Raketen? Warum lassen sie sich nicht stoppen?" Und nun hat auch noch ihre zweijährige Schwester begonnen, sich die Bilder aus den Krankenhäusern in Beer Shewa und Gaza genau anzuschauen. "Was hat der Bub an der Hand? Oder: Warum weint die Frau?" will die Jüngste voller Mitgefühl noch vor dem Einschlafen wissen.
Würden diese Szenen irgendwo am anderen Ende der Welt spielen, hätte ich vermutlich weniger Probleme mit der Formulierung von Antworten. Aber Sderot liegt eine gute Fahrstunde von Tel Aviv entfernt. In solchen Momenten streikt meine spontane Kommunikationsfähigkeit und ich frage mich, wie und ob sich solche Dinge altersgerecht erklären lassen. Für die meisten Israelis sind das überflüssige theoretische Fragen - denn die Szenen gehörten zur hiesigen Realität, der man nicht entfliehen könne.
Einfach den Fernseher abzuschalten wäre natürlich eine Option, aber dann ist da ja auch noch der Kindergarten, wo zu Purim dieses Jahr eigens Süßigkeiten für die Kinder in Sderot gesammelt wurden.
Außerdem fand im Kindergarten - wie überall im Land - gerade erst wieder eine Alarmübung statt, bei der die Kindergärtnerinnen ihre Schützlinge ohne Panik, aber in Windeseile in die Schutzkeller verfrachteten. In Deutschland bereitet man sich bei Warnübungen in der Regel auf den Ausbruch eines Feuer vor - in Israel lautet das Notfallszenario: Krieg.
Der offizielle letzte Krieg fand im Sommer 2006 gegen die Hizbollah statt. Wer jedoch nicht im Norden des Landes lebte, wo sich fast eine Million Israelis auf der Flucht befand und der verbliebene Rest wochenlang in Bunkern ausharrte, konnte seinen Alltagsgeschäften weitgehend normal nachgehen. Nur einmal kam die Bedrohung - zumindest rhetorisch - nahe, als Hassan Nasrallah mit Raketen auf Tel Aviv drohte. Ein solcher Angriff wäre ein Stich mitten ins Herz. Niemand hat hier die Tage während des Golfkrieges 1991 vergessen, in denen man mit Gasmasken in versiegelten Räumen saß - aus Angst, dass die Geschosse mit chemischen Sprengköpfen bestückt seien.
Sicher liegt Tel Aviv geschützer als die Städte direkt an der Grenze zum Libanon oder zu Gaza. Aber Israel ist zu klein, als dass sich jemand wirklich abschotten kann. Passiert ein Anschlag oder kommen Soldaten ums Leben, müssen die Israelis oft nicht lange suchen, bis sie eine Verbindung zu den Opfern finden.
Als Auslandskorrespondentin kenne ich eher die Prominenten unter ihnen: Da ist der Schriftsteller David Grossman, der viele seiner Kinderbücher geschrieben hat, als seine drei Kinder noch klein waren: Er hat einen Sohn im jüngsten Libanonkrieg verloren und ist seither nicht mehr derselbe.
Zu Ehren seiner Kollegin Zeruya Shalev durfte ich vor kurzem einen Abend im Jerusalemer Goetheinstitut moderieren und musste ihr dabei helfen, die Stufe zum Podium zu erklimmen. Denn ihre Verletzung am Bein, die von einem Selbstmordanschlag in Jerusalem resultiert, wird nie wieder ganz heilen. Narben dieser Art tragen die meisten Israelis.
Was sie aber nicht hindert, mit ihrem Leben hier fortzufahren. Die wenigstens kämen auf die Idee, einfach wegzugehen, genauso wenig wie die Deutschen ihr Land verlassen würden, weil es Drohungen von Al-Qaida gibt. Überall könne etwas passieren, sagen Israelis jenen, die fragen, ob es bei ihnen besonders gefährlich sei.
Und: Israel ist schließlich ihr Land. "Wir haben kein anderes", heißt es in einem bekannten Lied.
Die Autorin ist Nahostkorrespondentin der Wochenzeitung "Die Zeit".