Vergaberecht
Nach Luxemburger Urteil neue Debatte über geplantes Bundesgesetz
Zuletzt schien die Sache zum Selbstläufer zu werden. Details waren zwischen CDU und SPD zwar noch umstritten, doch an der Saar waren die Regierung von Ministerpräsident Peter Müller (CDU) und die stärkste Oppositionspartei eigentlich auf bestem Weg, das Vergaberecht zu reformieren und bei öffentlichen Aufträgen die Verpflichtung zur "Tariftreue" auszuweiten: Künftig sollten nicht nur wie bisher Unternehmen der Baubranche, sondern auch anderer Sektoren wie etwa der Entsorgungswirtschaft, des Busverkehrs oder des Bewachungsgewerbes regionale Tarifverträge einhalten müssen. Plötzlich steht dieses Projekt aber auf der Kippe: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jüngst am Beispiel Niedersachsen genau diese Bestimmung als unvereinbar mit dem EU-Recht verworfen.
Das Gericht stelle "Unternehmerinteressen vor die Interessen der Menschen", schimpft der SPD-Landtagsabgeordnete Ulrich Commercon. Arbeitsminister Josef Hecken fürchtet, dass die Bemühungen der Regierung unterlaufen werden, die Regelung zur Tariftreue auszudehnen. Der CDU-Politiker sorgt sich, dass "Wettbewerb auf dem Rücken von gering entlohnten Beschäftigten" ausgetragen werde.
Das Luxemburger Verdikt hat einschneidende Folgen nicht nur für die Saar. Auf dem Prüfstand steht auch die Tariftreuepflicht im Vergaberecht von Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Schleswig-Holstein und natürlich Niedersachsen. Vor allem aber gibt Luxemburg der Debatte über das auf Bundesebene geplante neue Vergaberecht, das den Rahmen auch für Länder und Gemeinden abstecken soll, eine neue Wendung. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Reinhard Schultz spricht von einer "sehr komplizierten Lage", beim Wirtschaftsflügel der Unionsfraktion sieht man "weitreichende Konsequenzen".
Beim Bau eines Gefängnisses in Göttingen war gemäß dem niedersächsischen Gesetz dem Generalunternehmer die Zahlung des regionalen Tariflohns mit Gehältern über dem bundesweit geltenden Rahmentarifvertrag im Baugewerbe auferlegt worden. Die Firma wurde von der Landesregierung zur Zahlung von 85.000 Euro verpflichtet, weil sich ein polnisches Subunternehmen nicht an diese Regelung gehalten hatte. Der Zivilprozess um diese Vertragsstrafe landete schließlich in Luxemburg. Laut EuGH widerspricht die Verpflichtung zur Beachtung eines bloß regionalen Tarifvertrags der Dienstleistungsfreiheit in der EU. Ausländische Arbeitgeber können nach dieser Entscheidung nur zu Löhnen gezwungen werden, unter die bundesweit alle deutschen Unternehmen einer Branche fallen und somit bei öffentlichen wie bei privaten Aufträgen zu zahlen sind. Der Staat dürfe nur die Einhaltung von Tarifverträgen, die für allgemeinverbindlich erklärt worden sind, oder von republikweit geltenden Mindestlöhnen nach dem Entsendegesetz einfordern.
Nun liegt der Ball im Bundestag. Das von CSU-Wirtschaftsminister Michael Glos und SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz ausgehandelte neue Vergaberecht sollte vor allem eine EU-Vorschrift umsetzen. Das Thema Tariftreue wird nicht direkt thematisiert: Entsprechend der EU-Leitlinie soll die öffentliche Hand bei Auftragsvergaben an Unternehmen Anforderungen stellen dürfen, die ökologische, innovative und "soziale" Aspekte betreffen. Nach dem Luxemburger Verdikt, das für das Wirtschaftsressort "nicht unerwartet" kam, zeichnet sich jetzt neuer Streit ab.
Freude über das Urteil bekundet Rainer Brüderle: Offenbar benötige die Regierung "ordnungspolitische Nachhilfe" von der EU, lästert der FDP-Fraktionsvize. Die Novellierung des Vergaberechts müsse grundlegend überarbeitet werden. Der Liberale lehnt "Tariftreueparagrafen" prinzipiell ab. "Das Vergaberechts muss für mehr Wirtschaftlichkeit sorgen", so Brüderle. Warum sollten sich Gemeinderäte "von Bürokraten vorschreiben lassen, welcher Firma sie mit dem Geld ihrer Bürger einen Auftrag erteilen?"
Ähnliche Positionen vertritt man beim Wirtschaftsflügel der Union. "Sachfremde Aspekte" sollten aus dem Vergaberecht herausgehalten werden, Tariftreuebestimmungen führten zu "Bürokratie" und "weniger Transparenz", heißt es. Im Vordergrund müsse bei öffentlichen Aufträgen die Wirtschaftlichkeit stehen. Das Vergaberecht habe "keine Erziehungsfunktion". Die Wirtschaftspolitiker der Union wollen jedoch die Brüsseler Vorgabe in puncto Tariftreue so restriktiv wie möglich handhaben.
Schultz will hingegen darauf dringen, das Kriterium der "sozialen Aspekte" im Vergaberecht "deutlicher" zu formulieren. Immerhin sei es möglich, von Unternehmen die Beachtung allgemeinverbindlicher Tarifverträge und gesetzlicher Mindestlöhne zu verlangen. Der SPD-Abgeordnete appelliert an die Gewerkschaften, vermehrt bundesweit geltende Rahmentarifverträge abzuschließen. Andererseits müsse sich der "Gesetzgeber etwas einfallen lassen", um die Einstufung von Tarifverträgen als allgemeinverbindlich zu erleichtern - gerade auch in Branchen, wo nur wenig Firmen einem Tarifvertrag unterliegen.
Die Abgeordnete Ulla Lötzer (Die Linke) fordert die Regierung auf, in der EU auf Änderungen der Vergabe- und Entsenderichtlinien im Sinne der Tariftreue zu dringen. Das Wirtschaftsministerium stuft die Chancen dafür als "sehr gering" ein. Der EU-Parlamentarier Jo Leinen sieht vor allem in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen und in gesetzlichen Mindestlöhnen einen praktischen Ausweg aus dem Dilemma. Der Verfassungsausschuss der Straßburger Volksvertretung, dem der SPD-Politiker vorsitzt, wolle nach dem Luxemburger Spruch aber prüfen, ob Lücken im EU-Recht die Berücksichtigung sozialer Belange wie etwa im Vergaberecht erschwerten.