Indien
Der Aufstieg des Subkontinents zum Global Player - ein Weg mit Hindernissen
Noch immer ist Indien ein armes Land. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, viele davon sind Analphabeten und verfügen über ein Einkommen von nur knapp einem halben US-Dollar pro Tag. In Delhi und Mumbai, dem ehemaligen Bombay, haust jeder zweite Bewohner in einer slumähnlichen Unterkunft ohne Toilette und sauberes Wasser, und in den anderen 30 indischen Millionenstädten sieht es nicht viel besser aus.
Hunderttausende indischer Bauern sind hoch verschuldet, denn die durchschnittliche Betriebsgröße der 116 Millionen landwirtschaftlichen Höfe liegt bei 1,4 Hektar und ermöglicht Kleinstbetrieben keine nennenswerten Erträge. Nahrungsmittel sind nach wie vor knapp, die Unterernährung der Armen in Indien soll teilweise sogar gravierender sein als in Schwarzafrika. 35 Prozent der Landbevölkerung sind besitzlose Tagelöhner und zählen zu den Ärmsten der Armen überhaupt. Der nackte Kampf ums Dasein ist für Millionen von Indern also nach wie vor bittere Realität.
Dennoch sieht Dietmar Rothermund den indischen Subkontinent auf einem gutem Weg. Wachstumsraten in den letzten Jahren mit teilweise über zehn Prozent haben zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung geführt und eine neue, gut bis sehr gut verdienende Mittelschicht hervorgebracht. Diese "Avantgarde des Fortschritts" besteht aus 150 bis 250 Millionen Menschen, ist hoch qualifiziert, kurbelt den Konsum an und gibt viel Geld für Bildung und Weiterbildung aus. Mit 16 Millionen Studenten verfügt Indien im internationalen Ländervergleich über das drittgrößte Potential von Akademikern.
Entscheidend war, so Rothermund in seinem neuen Buch über den Subkontinent, dass es im Laufe der 1980er-Jahre gelang, die bis dahin gefesselte Wirtschaft zu liberalisieren. Nach dem Niedergang der Textilindustrie konnte vor allem die IT-Branche wahre Triumphe feiern. Indische Software-Experten gehören zu den besten der Welt und haben nicht nur mit dem Simputer erstaunliche technische Innovationen geschaffen. Die soziale Einbeziehung aller indischen Dörfer in das nationale Kommunikationsnetz steht unmittelbar bevor.
Auch die chemische Industrie, besonders bezüglich der Arzneimittel-Erzeugung, hat beachtliche Erfolge vorzuweisen, außerdem ist die Stahlproduktion stark expandiert, was wiederum zu einem Anstieg ausländischer Direktinvestitionen von über fünf Milliarden US-Dollar im Jahr 2004 geführt hat. Nach Berechnungen der Investmentbank Goldman Sachs wird Indien im Jahr 2050 mit 1,6 Milliarden Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von 27,8 Billionen US-Dollar die drittstärkste Weltwirtschaftsmacht darstellen, eine Einschätzung, die Rothermund zwar so nicht teilt. Gleichwohl ist auch Rothermund überzeugt, dass das Land, nicht zuletzt auf Grund "der riesigen Reservearmee billiger Arbeitskräfte", zu den Global Players gehören wird, vorausgesetzt allerdings, die noch bestehenden erheblichen Engpässe in der Wasser- und Energieversorgung sowie in der Infrastruktur werden überwunden.
Rothermund, bis vor kurzem Professor für die Geschichte Südasiens an der Heidelberger Universität, kennt nach zahllosen Indienreisen und langjährigen Studien das Land wie kein Zweiter. Der Leser erfährt in diesem faktenreichen Buch auch, wie sich Indien zur weltweit größten Demokratie entwickelt hat, wie zurzeit versucht wird, die Bevölkerungsexplosion in den Griff zu bekommen, wie man die religiösen Konflikte zwischen Hindus und Muslimen lösen will, welche Parteien auf Bundes- und Landesebene um Wählerstimmen buhlen, wie das Kastenwesen allmählich überwunden wird, wie die Spannungen zum Nachbarland Pakistan geregelt werden und was Indien kulturell zu bieten hat.
Wer Rothermunds Buch liest, erhält einen wirklich allumfassenden Einblick in die Probleme und Besonderheiten dieses faszinierenden Landes.
Indien. Aufstieg einer asiatischen Weltmacht.
C.H. Beck Verlag, München 2008; 336 S., 26,90 ¤