Sie waren 1976 selbst Olympiasieger im Fechten: Wenn wir den Athleten von damals in die Gegenwart holen, dann müsste der Sportler Thomas Bach ziemlich sauer auf den Präsidenten Thomas Bach sein, weil der ihn zu Olympischen Spielen nach Peking schickt?
Ganz im Gegenteil. Das hätte ich mir 1980 gewünscht. Der damalige Boykott war für mich ein einschneidendes Erlebnis als Sportler. Der Sport ist in eine Diskussion hineingedrängt worden und hat sich am Ende gegen eine Teilnahme entschieden. Das Echo, das wir jetzt von den Athleten erhalten haben, ist ein sehr positives, weil wir zur richtigen Zeit eine klare Entscheidung für die Teilnahme der Athleten getroffen haben. Das hat uns 1980 vor den Spielen in Moskau gefehlt.
Für die Athleten bedeuten Spiele in China eine echte Zwickmühle - der Sport auf der einen, politisch-gesellschaftlich geforderter Protest auf der anderen Seite?
Die Athleten sind zunächst einmal froh, dass die Entscheidung gefallen ist, definitiv zu den Olympischen Spielen zu fahren. Das ist einhellig. Die jetzige Diskussion in Deutschland ist auch eine Folge des Teilnahmebeschlusses. Bei einem Boykott hätte auch niemand in China seine Meinung äußern können. Den Athleten sind Diskussionen, wie sie aktuell geführt werden, auch nicht fremd. Die Frage "Welche Meinungsäußerung ist möglich", ist nicht auf die Olympischen Spiele beschränkt, sondern gilt bei allen Sportereignissen.
Es ist aber schon eine absolute Sondersituation, wenn die größte Sportveranstaltung der Welt in einem Regime wie in China stattfindet…
In China finden seit vielen Jahren Sport- und andere Großveranstaltungen statt. Erst vor einem halben Jahr wurden die deutschen Frauen dort Fußball-Weltmeister, und niemand der dorthin gereisten Politiker hat über die Menschenrechte in China geredet.
Aber nicht Olympische Spiele...
Hochrangige Wettkämpfe wie Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele können nur stattfinden, wenn sie von politischen Konflikten möglichst freigehalten werden. Der Sport ist die einzige gesellschaftliche Erscheinung, der es gelingt, alle 205 Länder dieser Welt friedlich zusammenzubringen. Das würde niemals funktionieren, wenn auf diesen Spielen politische Meinungsunterschiede ausgetragen werden könnten. Man würde niemals Iraker und US-Amerikaner zusammenbringen, niemals Israelis und Palästinenser, niemals Hutus und Tutsis. Es wäre das Ende der Spiele und der Sport hätte keinen Sinn mehr.
Diese Argumentation bezieht sich auf den Wettkampf. Bei der aktuellen Diskussion geht es grundsätzlich um den Austragungsort Peking. Sie müssen doch zugeben, dass das eine besondere Situation ist!
Das ist eine andere Frage, auch wenn Peking Schauplatz für viele internationale Ereignisse ist. Zunächst einmal geht es darum, wie die Athleten sich fühlen. Und da sage ich, auch aus eigener Erfahrung, erstens: Die Athleten sind froh, dass sie zu den Olympischen Spielen hin dürfen, zweitens: Die Athleten kennen die Situation, die sportlichen Regeln von Weltmeisterschaften oder anderen internationalen Meisterschaften, drittens: Die Athleten werden ihre Meinung offen sagen können, was jetzt ja auch die IOC-Richtlinien bestätigt haben, viertens: Die Athleten wollen sich nicht instrumentalisieren lassen.
Aber gerade durch die Standortentscheidung werden sie doch für das Regime instrumentalisiert...
Nein! Die Teilnahme eines Sportlers an einem Wettbewerb in einem Land ist nicht gleichzusetzen mit einer Demonstration für dieses Land.
Das sehen die Chinesen aber ziemlich anders. Schon allein die Besetzung des Organisationskomitees macht das deutlich!
Jedes Land nutzt eine Weltmeisterschaft oder ein sportliches Großereignis für sich. Das war auch in Deutschland bei der WM 2006 so. Und auch da gab es eine Einbettung politischer Stellen, ansonsten wären solche Veranstaltungen nicht durchführbar. Die Möglichkeit der staatlichen Darstellung ist ohnehin soweit beschränkt, dass bei der
Eröffnungsfeier der Staatschef nur einen einzigen vorgeschriebenen Satz sagen darf: "Ich erkläre die Olympischen Spiele von Peking für eröffnet."
Ihnen wird die Diskussion also zu undifferenziert geführt?
Ja, man muss stärker unterscheiden. Man darf doch dem Sport nicht ernsthaft vorwerfen, sich gegen politische Instrumentalisierung zu wehren.
Die Entscheidung für Peking, 2001 in Moskau, ist also dezidiert keine politische Entscheidung gewesen?
Der Sport ist nie apolitisch. Das kann und will er nicht sein. Der Sport muss politisch neutral sein, sonst ist er am Ende. Bei der Vergabe von Olympischen Spielen gewichtet jedes IOC-Mitglied anders. Da sagen manche, Hauptsache wir haben alle Garantien, dass die Sportstätten da sind und dass alles gut organisiert wird. Andere sagen, es hängt vom Verkehr ab. Und wieder andere fragen nach den politischen Implikationen.
Dann gönnen Sie uns mal einen Einblick ins Funktionieren des IOCs...
Ich kann nicht in die Köpfe von 115 Mitgliedern schauen. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen und Gewichtungen. In Bezug auf die politische Situation gab es damals zwei Denkschulen: Die eine besagte, man soll Olympische Spiele nur in Länder vergeben, in denen die Menschenrechte verwirklicht sind. Die andere besagte, dass die Spiele zur Öffnung der Gesellschaft beitragen können. Dazwischen gibt es Abwägungen zu treffen. Die hat damals jeder für sich getroffen.
Das klingt recht hart abwägend: Für Menschenrechte, gegen Menschenrechte.
Das ist eine Unterstellung, die ich zurückweise. Das ist nicht eine Abwägung für oder gegen Menschenrechte, sondern eine Antwort auf die Frage "Wie kann man mehr tun für Menschenrechte?"!
Vom Sportler über den Funktionär zum Menschen: Welche Emotionen verbindet der Mensch Thomas Bach mit der Situation in China?
Das IOC ist keine Weltregierung, die die Staaten in Gut und Böse einteilen kann. Wenn die Verwirklichung von Menschenrechten Voraussetzung für die Vergabe Olympischer Spiele sein soll und man dann den Jahresbericht von Amnesty International daneben legt, dann suchen Sie bitte die Staaten raus, in denen nach diesen Voraussetzungen noch Olympische Spiele möglich sind.
Hand aufs Herz: Ein bisschen haben Sie es sicher schon bedauert, dass Sie sich damals für Peking entschieden haben...
In den vergangenen Jahren hat sich in China im Bereich der Menschenrechte eine ganze Menge bewegt. Sicher nicht genug. Man muss die Fortschritte anerkennen und dabei gleichzeitig feststellen, dass sie nicht zureichend sind. Allein, dass wir hier heute über Menschenrechte in China sprechen, ist dem Fakt zu verdanken, dass die Olympischen Spiele dort stattfinden. Man kann den Eindruck gewinnen, erst mit der Vergabe der Olympischen Spiele, haben manche Menschen die Sachlage realisiert.
Das klingt, als sähe sich das Internationale Olympische Komitee in der weltweiten Debatte über die Menschenrechtslage in China falsch beurteilt?
Die Erwartungen, die jetzt an die Spiele gerichtet sind, sind unrealistisch. Zu glauben, man könne mit 16 Tagen Olympische Spiele all die Probleme lösen, an denen Generationen von Staatsmännern und Parlamentariern gescheitert sind, entbehrt jeder Realität. Ich wehre mich dagegen, dass all diejenigen, die über Jahre nichts dagegen getan haben, nun plötzlich vom Sport erwarten, er könne Wunder bewirken. Das ist nicht hinnehmbar!
Wen meinen Sie mit "diejenigen"?
Beispielsweise einen europäischen Präsidenten, der nach China fährt und einen Vertrag über die Lieferung von Kernkraftwerken abschließt. Kaum ist er wieder zu Hause, fängt er plötzlich an, über den Boykott der Olympischen Spiele zu spekulieren.
Sie nehmen die Politik in die Pflicht?
Ich kann sie nicht in die Pflicht nehmen. Ich appelliere nur, sich zu überlegen, was es bedeutet, wenn man sagt: Ich will keinen Boykott, aber ich will damit drohen. Das heißt, ich nehme unsere Olympiamannschaft und unsere Athleten als eine Figur oder eine Karte in einem Pokerspiel - welches krude Menschenbild steckt denn dahinter?
Das alles zeigt doch, unter welch großem gesellschaftlichem und politischem Druck die Athleten stehen…
Viele Athleten fühlen sich tatsächlich unter Druck gesetzt und instrumentalisiert. Aber nicht durch den Sport! Sie legen Wert auf die Feststellung, dass das Recht zur Meinungsäußerung auch das Recht zu schweigen und sich nicht zu äußern einschließt. Man darf die Athleten nicht von außen in zwei Kategorien einteilen: Wer sich äußert, ist gut, wer nicht, hat kein politisches Bewusstsein.
Gesetzt den Fall, Athleten wollen sich äußern. Was ist erlaubt?
Die Athleten sind mündige Bürger. Sie dürfen sich mündlich überall frei und offen äußern, auch bei offiziellen Pressekonferenzen oder in den Mixed-Zonen der Wettkampfstätten. Untersagt ist jede Art der politischen, religiösen oder rassistischen Demonstration und Propaganda in den olympischen Arenen oder im olympischen Dorf. Aber wie gesagt, dies ist keine Extremregel für Olympische Spiele. Solche Regeln gibt es für alle Großveranstaltungen wie bei Leichtathletik- oder Fußball-Weltmeister-schaften
Thema saubere Spiele: In den Medien werden schlimmste Dopingszenarien gemalt. Berechtigte Sorge?
Diese Spiele werden das am strengsten kontrollierte Sportereignis sein, das es je gegeben hat. Wir steigern die Zahl der Tests von 3.600 auf 4.500 - davon rund 800 Bluttests. Die ersten fünf und zwei weitere jedes Wettkampfes werden getestet, die Proben für acht Jahre eingefroren. Sie können somit später mit neuen Methoden nochmals getestet werden. Grundsätzlich sollten wir aber einen Paradigmenwechsel erwägen - weg vom Rekorddenken: Der Sinn des Sports ist der Wettkampf mit dem Gegner und nicht ein abstraktes Messen von Zeiten und Weiten.
Das Interview führten Sebastian Hille
und Christoph Hermanny.