VORBEREITUNG
Für Sportler sind Olympische Spiele Höhepunkte ihrer Karriere. Dafür verzichten sie auf vieles. Ein Beispiel
Man kann viel Nettes über Nora Subschinski sagen - aber dass sie viel an der frischen Luft ist und man ihr das ansieht, gehört nun gerade nicht dazu. Die 19-Jährige ist ein bisschen blass - nicht nur um die Nase. Als Turmspringerin verbringt sie ihre Tage statt in der Frühlingssonne in einer fensterlosen Schwimmhalle. Das große Ziel: Eine Medaille bei den Olympischen Spielen in Peking.
Es ist noch vor neun Uhr als Nora Subschinski, wie jeden Morgen, an der Landsberger Allee im Osten Berlins aus der S-Bahn steigt: Ihren "Arbeitsplatz" kann sie von hier aus schon sehen; die Schwimm- und Sprunghalle schließt sich direkt an den Bahnhof an. Nach einer Stunde Aufwärmen steht die junge Frau mit den kurzen dunklen Haaren um Punkt zehn Uhr am Beckenrand, geht mit Trainer Jan Kretzschmar den "Stunden"-Plan für den Tag durch. Um elf Uhr klettern die kleinen Füße der nur 1,58 Meter großen Berlinerin bereits zum 20. Mal den Sprungturm hinauf. Wenige Sekunden später steht sie ganz vorne an der Kante in zehn Metern Höhe, schaut erst aufs Wasser, dann zu Trainer Kretzschmar. "Nora", ruft der, "warte noch!" Sekunden der Konzentration.
Dann hallt es "Okay", Subschinski drückt sich ab. Ein, zwei, drei lange Momente schraubt sich ihr Körper faszinierend leicht durch die Luft. Taucht schließlich nahezu lautlos kopfüber ins blaue Beckenwasser ein. Kretzschmar schaut düster drein. Er ist alles andere als zufrieden. Unerbittlich dreht seine Hand den Knopf des Videorecorders, mit dem jeder Sprung des achtköpfigen Teams aufzeichnet wird, hin und her: "Oben", sagt er, "war's gar nicht schlecht. Aber unten warst du viiiel zu zögerlich!"
Harte Worte von einem alten Hasen an ein junges Ausnahmetalent: Kretzschmar trainiert seit 1974 deutsche Turmspringer. Nora Subschinski kam erst 1988 zur Welt, hat seither kaum einen Erfolg ausgelassen. Sie ist dreifache Europameisterin und WM-Dritte im Synchron-Springen vom Zehn-Meter-Turm, begeisterte schon vor vier Jahren in Athen als jüngste deutsche Olympionikin. "Der kann schon schimpfen", sagt sie über Kretzschmar, "aber er ist der beste Trainer, den ich kenne. Und: Wir brauchen auch ein bisschen Druck."
Nach Aufwärmen, Wassertraining und einer Stunde Ballett - für Körpergefühl, Beweglichkeit und Ästhetik - tauscht Nora Subschinski zeitweilig ihren schwarz-roten Badeanzug gegen Straßenkleidung: Jeans, lila Haarreif und ein schwarz-weißes Top mit Totenköpfen, das in merkwürdigem Gegensatz zu ihrem Auftreten steht. Geradezu schüchtern lässt sie ihre noch junge Karriere bei einer Tasse heißer Schokolade Revue passieren: Es ist der Lebenslauf eines Mädchens, das sich schon als Kind harter körperlicher Arbeit verschrieben hat. "Der Sport ist mein Leben", sagt sie, "warum, weiß ich nicht - aber ich wollte nie etwas anderes. Das, worauf ich verzichten musste, viele Partys, viele Freunde und so, habe ich nie vermisst."
Angefangen hat alles mit acht Jahren. Die kleine Nora ging zum Turnen - und war untröstlich, als ein Trainer sagte, sie werde zu schwer, um richtig gut zu werden. Über eine Freundin kam sie zum Wasserspringen und blieb dabei, wurde Berliner Bezirks-, Landes-, schließlich Deutsche Meisterin - und dann, mit 15, Europameisterin. "Wenn man Erfolg hat, ist es nicht schwer, ehrgeizig zu sein", erzählt sie, "es ist ein Wahnsinnsgefühl, auf dem Treppchen zu stehen. Weil man das wieder erleben will, trainiert man weiter." Und Olympia, das sie schon mit 15 erlebte? "Toll", sagt sie, "mit Athleten aus der ganzen Welt vier Wochen in einem Dorf - das ist etwas sehr Besonderes." Olympia ist allerdings auch die einzige Gelegenheit, bei der die deutsche Öffentlichkeit sich für das wenig beachtete Turmspringen interessiert - dort sind gleich mehrere potenzielle deutsche Medaillengewinner am Start. Alleine von Kretzschmars Sportlern aus Berlin springen vier in der internationalen Spitzenklasse mit: Ditte Kotzian, Tobias Schellenberg, Patrick Hausding und eben Nora Subschinski. Das Pensum, das die vier leisten, ist enorm: Rund 60 Sprünge absolviert jeder von ihnen am Tag, morgens 30, nachmittags 30, dazwischen Krafttraining und Ballettunterricht.
50 Stunden Training kommen so locker montags bis samstags zusammen. "Daneben geht nicht mehr viel", sagt Nora Subschinski, "mal ins Kino oder auf einen Geburtstag. Aber eigentlich sind meine Freunde meine Kollegen. Ich habe sie ja dauernd um mich - in Berlin wie auf Reisen." Tatsächlich: Letzte Woche stand Eindhoven im Kalender, nächste Woche Moskau. Dann, im August, wenn alles gut geht und sie nominiert werden, fünf Wochen China: Erst ins Trainingslager, dann zu den Olympischen Spielen. Vorbereiten müssen sie sich vor allem auf die Konkurrenz der Gastgeber: "In China ist Turmspringen Volkssport", stöhnt Subschinski, "wenn wir Pech haben, räumen die alle Medaillen alleine ab." Hat sie auch eine politische Meinung über das Land, in das sie reist? Sie schüttelt den Kopf. "Sport hat mit Politik nichts zu tun", sagt sie, "ich kann nur sagen: Ich habe jahrelang trainiert - nun will ich auch nach Peking."
Es gibt aber noch etwas, worüber sie noch nicht nachdenken will: die Zeit nach dem Sport, auch wenn sie unweigerlich kommen wird. "Das ist noch so weit weg", sagt sie, "ich will mich damit noch nicht befassen." Tatsächlich muss sie das in diesem Moment auch noch nicht: Sie ist gerade einmal 19 Jahre alt und wie die meisten Hochleistungssportler in einer Sportfördergruppe der Bundeswehr. Bis 2005 besuchte die Ostberlinerin wie viele ihrer Trainingspartner noch heute das Coubertin-Gymnasium in Prenzlauer Berg.
Die Schule ist eine von 38 Eliteschmieden des Sports, die der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) bundesweit unterhält und damit die Tradition der "Olympiakaderschmieden" aus der ehemaligen DDR fortführt. Größter Vorteil dieser Schulen ist es, dass sie den Sportlern - egal, ob sie sechs oder 18 Jahre alt sind - einen starren Stundenplan nach Schema F ersparen. Für jeden Einzelnen werden Trainings- und Schulzeiten aufeinander abgestimmt. Klassenzimmer wie Sportstätten werden rotierend besetzt - sodass immer die einen trainieren, während die anderen im Unterricht sitzen. Und wer über Wochen bei Wettkämpfen ist, muss in den Ferien zusammen mit den Lehrern nacharbeiten.
Dass sie die Schule abschließen und einen Beruf lernen, ist dabei auch für Olympioniken unabdingbar: In aller Regel wird man durch Leistungssport nicht reich. Für eine Medaille bei den Olympischen Spielen gibt es zwischen 15.000 und 20.000 Euro; angesichts der Vorarbeit bestenfalls eine Aufwandsentschädigung. An den Olympia-Stützpunkten, die Spitzensportler betreuen, spielt deswegen längst nicht nur der Sport eine Rolle. 33 Laufbahnberater stehen den Athleten bundesweit in Fragen der "dualen Karriereplanung" zur Seite. Sie begleiten die Sportler während ihrer sportlichen Karriere - unterstützen sie, Ausbildung und Training unter einen Hut zu bringen. Probleme, sagt der Leiter des Stützpunktes Berlin, Jochen Zinner, gebe es nur selten: "Wer ein internationaler Spitzenathlet ist, ist flexibel, organisiert und zielstrebig. Solche Leute bringen es auch im Beruf zu etwas."
In diesen Monaten allerdings muss die Vorbereitung auf Abitur, Bachelor oder Lehrprüfung aus gegebenem Anlass zurückstehen. 430 Athleten werden nach Peking reisen; nominiert ist Mitte Mai gerade jeder Dritte. Mehr als eintausend dürfen noch hoffen, ein Ticket zu ergattern - und trainieren und trainieren. Nora Subschinski ist eine von ihnen - und wenn sie fährt, tut sie das nicht nur als Turmspringerin, sondern auch als Berlinerin. "50 plus x" Sportler aus Berlin - das ist Stützpunkt-Leiter Zinners Ziel. In Athen waren es 58. Die deutsche Hauptstadt ist damit auch Hauptstadt des Spitzensports.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.