Vor langen Jahren, so Indiens designierter Premierminister Jawaharlal Nehru am Vorabend des Unabhängigkeitstags vom 15. August 1947, "hat Indien der Vorsehung ein Versprechen" gemacht. Nun sei endlich der Augenblick gekommen, es einzulösen. Die Abmachung bestand darin, das Land "von Armut, Krankheit und Notdurft (...) zu befreien, nicht vollständig, aber doch in großem Maß".
Hat Indien sein Versprechen eingehalten? Sechzig Jahre oder drei Generationen später sind ein guter Zeitpunkt, die Frage zu stellen. Die Antworten fallen unterschiedlich aus, je nach dem Maßstab, den der Beobachter ansetzt. Aus einer wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive mit einer Referenzperiode von hundert Jahren sind die Fortschritte beachtlich. Das durchschnittliche Jahreswachstum, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der letzten Phase der Kolonialherrschaft, 0,79 % betragen hatte, beschleunigte sich in der zweiten Hälfte um das Fünffache. Und trotz der Zunahme der Bevölkerung um das Dreieinhalbfache ist das Volksvermögen in realen Zahlen um das Zehnfache gewachsen. Gleichzeitig ist dieses riesige und heterogene Land jenes mit der denkbar größten politischen Stabilität unter allen Entwicklungsländern geblieben. Und dies nicht unter der Fuchtel eines autokratischen Regimes, sondern dank des freien demokratischen Entscheids seiner Bürger. Indien war Wegbereiter der Entkolonisierung und wurde Mitbegründer und Zugpferd der Blockfreien, der ersten politischen Bewegung der "Dritten Welt", die sich zumindest ansatzweise dem westlichen wirtschaftsideologischen Diskurs entzog, sei es in dessen marktwirtschaftlicher, sei es in kommunistischer Ausprägung. Diesen internationalen Führungsstatus hat es auf halbem Weg eingebüßt, und erst heute ist es dabei, ihn - kraft seiner ökonomischen Macht - wieder einzufordern, allerdings auf Kosten des Anspruchs auf einen "Dritten Weg".
Die Entwicklungsdynamik hat sich nach 1990 nochmals bedeutend beschleunigt. Und aufgrund der ersten Welle wirtschaftlicher Reformen hat es im vergangenen halben Jahrzehnt noch einmal einen Wachstumssprung vollzogen. Zahlreiche Beobachter behaupten, dass sich Indien in den vergangenen fünf Jahren stärker verändert hat als in den fünfzig Jahren zuvor. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich nahezu verdoppelt - die erste Verdoppelung hatte 19 Jahre gebraucht. Spar- und Investitionsvolumina sind von 27 auf 34 % gestiegen, die Armutsquote ist, auch wenn die Angaben stark schwanken, um ein Drittel gesunken. So gesehen, hat die Dynamisierung der Wirtschaft mehr für die Armutsbekämpfung getan als die vielen Milliarden, die von der indischen Regierung - und von der internationalen Hilfsgemeinschaft - während fünfzig Jahren in die Entwicklungshilfe gepumpt worden sind.
Vor einem Jahr berichteten indische Zeitungen über einen neuen Meilenstein: Die Wirtschaftsleistung - das Bruttosozialprodukt - hatte eine Billion bzw. 1000 Milliarden US-Dollar erreicht. Damit ist Indien erst das zwölfte Land der Welt, das diese Hürde übersprungen hat. Dies ist auf den ersten Blick nichts Weltbewegendes, denn wiederum ist es das Gesetz der großen Zahl, das diese Leistung wesentlich begründet. In Indien leben inzwischen nahezu 1,2 Milliarden Menschen, und jeder sechste Weltbürger ist damit eine Inderin oder ein Inder. Man muss also nur die 1000 Milliarden durch die Bevölkerungszahl dividieren, um auf ein viel bescheideneres Resultat zu kommen: rund 833 US-Dollar - das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Inders. Beide Zahlen zeigen Größe und Grenzen dieses Landes an. Immerhin hat es damit eine weitere Hürde genommen. Es gehört, extrapoliert man das Wachstum von 8,5 % auf das Jahr 2008, fortan nicht mehr zur Kategorie der "ärmsten Länder", jenen also, die gemäß Weltbank ein Jahreseinkommen von weniger als 842 US-Dollar pro Kopf erreichen. Heißt dies, dass Indien damit "aus dem Schneider" und auf dem besten Weg zu einem Wohlfahrtsstaat westlichen Musters ist, wenn nicht gar zu einer wirtschaftlichen und politischen Großmacht? Wer in diesen Tagen die Medienberichterstattung verfolgt, könnte den Eindruck gewinnen, dass dies nur ein Frage der Zeit ist, und dass diese Zeit näher ist, als wir gemeinhin annehmen.
Man muss das enorme Wachstum nur in die Zukunft projizieren, und schon ist man bei den Prognosen der amerikanischen Citibank, die vor drei Jahren für die vier BRIC-Staaten - Brasilien, Russland, Indien, China - folgendes Szenario aufgestellt hat: In fünfzig Jahren wird Indien hinter China und den USA an dritter Stelle der weltweit größten Volkswirtschaften stehen. Jene Studie war von einem Jahreswachstum von 6 % ausgegangen. Seitdem ist das Land aber jedes Jahr um 8,5 % gewachsen, und falls es dieses Wachstum beibehält (oder gar ausbaut), wird Indien auch die USA überholen und hinter China den zweiten Platz besetzen. Die Marktkapitalisierung der indischen Börsen liegt mit 1800 Milliarden US-Dollar schon weit über dem Sozialprodukt. Auslandsinvestitionen liegen zwar immer noch weit hinter jenen Chinas, doch haben sie sich zwischen 1991 und 2006 verhundertfacht - von 150 Millionen auf 15 Milliarden US-Dollar.
Doch wie immer bei großen Zahlen und Volkswirtschaften, die relativen Größen sind oft wichtiger als die absoluten. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin "Forbes" schätzte im März 2008 die Zahl der indischen Dollar-Milliardäre auf 54 - mehr als Japan zu bieten hat. Ihr Vermögen umfasst zusammengerechnet knapp 250 Milliarden US-Dollar. Über ein Fünftel des gesamten Volksvermögens dieses Milliardenvolks wird also, vereinfacht gesagt, von einer verschwindend winzigen Minderheit beansprucht. Wird dieses große Küchenstück herausgenommen und der Rest auf die 1,2 Milliarden Menschen (minus 54 Köpfe) verteilt, nimmt das Pro-Kopf-Vermögen rasant ab und beträgt nur noch rund 600 US-Dollar pro Kopf und Jahr. Das bedeutet knapp zwei US-Dollar pro Tag, womit Indien wieder unter den Ärmsten wäre. Das alte Klischee von Indien als dem Land der Widersprüche trifft also immer noch zu, und damit auch die Frage, ob das Glas halb leer oder halb voll ist.
Trotz aller Erfolge muss konstatiert werden, dass das Land in den sechs Jahrzehnten nicht fähig war, sich aus seiner Armut zu befreien. Die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums hat zweifellos auch die Armutszahlen in Bewegung gebracht. Wie das geflügelte Wort es ins Bild fasst, hat die Flut, wenn sie in den Hafen hereinkommt, alle Boote gehoben, große wie kleine. Doch was ist - um im Bild zu bleiben - mit den lecken Booten, die am Ufer liegen und von der Flut entweder nicht berührt, oder schlimmer noch, von ihr überspült werden? Ist es dem Staat gelungen, mit dem erhöhten Zufluss von Steuereinnahmen die zahlreichen lecken Boote wieder flottzumachen, damit sie schwimmen statt untergehen? Oder wächst mit dem Wachstum auch die Kluft zwischen Arm und Reich? Denn inzwischen erarbeiten zehn Prozent der Bevölkerung die Hälfte der Wirtschaftsleistung, während die untersten zehn Prozent gerade zwei Promille dazu beitragen.
Der prominente indische Ökonom Arjun Sengupta ist in einer im März dieses Jahres veröffentlichten Studie über India's Common People der Frage nachgegangen, welches die Effekte von 16 Jahren Wirtschaftsreformen auf das Armutsprofil der Bevölkerung gewesen sind. Darin setzen er und seine Ko-Autoren sich zunächst mit der herkömmlichen Methodologie auseinander, mit welcher der indische Staat Armut misst. Dieser stützt sich auf die National Sample Survey Organisation (NSSO), einer Regierungsbehörde, die jedes Jahr das Einkommen eines repräsentativen Durchschnitts der Bevölkerung misst. Sie stellt dabei namentlich die sozialpolitisch relevante Poverty Line fest, jene Grenzlinie, unter der ein Überleben im Vollbesitz der eigenen Kräfte nicht mehr möglich ist. Die NSSO legt diese bei einem Tageseinkommen (bzw. dem entsprechenden Konsumwert) von 12 Rupien fest, was einem kaufkraftbereinigten Wert von 1,3 US-Dollar pro Tag entspricht.
Wie andere Ökonomen kommt auch Sengupta zum Schluss, dass sich diese Grenze seit Beginn der Wirtschaftsreformen positiv verschoben hat. Fielen 1993 noch 31 % der Bevölkerung (274 Millionen Menschen) unter diese Grenze, so sind es zehn Jahre später noch 22 % (237 Millionen). Damit wären seit Beginn der Reformen zusätzliche 9% der Bevölkerung der Armutsfalle entronnen, was suggeriert, dass beinahe 80% der indischen Bevölkerung zumindest eine kleinbürgerliche und damit eine gesicherte Existenz haben.
Ein solcher Schluss ist aber, so Sengupta, eine statistische Täuschung, zu der indische Politiker gern greifen, wenn es darum geht, im Ausland die Trommel für Auslandsinvestitionen zu rühren oder die Großmachtambitionen des Landes zu begründen. (Auch Politiker der Industrienationen nehmen seit kurzem gern Zuflucht dazu, wenn es darum geht, die Kürzung ihrer Entwicklungshilfe zu begründen.) Eine solche Argumentation ist nur deshalb möglich, weil die Armutsgrenze und was darunter steht - Menschen below the poverty line (BPL) - so tief angesetzt wird. Und die nächst höheren beiden Einkommenskategorien - von der NSSO als "marginal" und "gefährdet" gekennzeichnet - sind, statt zu schrumpfen, in den vergangenen zehn Jahren gewachsen, von 51 auf 54 % der Bevölkerung. Die Grenzlinie, die für diese beiden Einkommensgruppen angesetzt wird, verdeutlicht, dass auch die Menschen in diesen Kategorien äußerst arm sind: Sie liegt bei 15 Rupien am Tag für die "marginale" und bei 20 Rupien für die "gefährdete" Gruppe. Dies ergibt ein Einkommen von weniger als zwei US-Dollar pro Tag - dem internationalen Grenzwert zur Feststellung von äußerster und damit lebensgefährdender Armut.
Fasst man also diese drei Kategorien zusammen, so zeigt sich das Gegenteil des vielfach suggerierten Bildes eines Landes, das dabei ist, das letzte Fünftel seiner Armut auszurotten: Insgesamt 76 % der Bevölkerung (836 Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von 1090 Millionen) haben ein Einkommen, das ihnen bestenfalls eine miserable Existenz zugesteht. Geht man noch stärker ins Detail, verfestigt sich dieses Bild weiter. Die Definition des "Konsumkorbs", aufgrund dessen das Einkommen eines armen Haushalts berechnet wird, zeigt, dass er fast ausschließlich Nahrungsmittel umfasst. Gesundheitskosten werden kaum berücksichtigt, Erziehungskosten ebenfalls nicht. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die Gesundheitskosten mehr als die Hälfte des Arbeitseinkommens armer Menschen ausmachen. Dies ist auch nicht anders zu erwarten, da sie doch aufgrund von Mangelernährung von Geburt an (oder schon davor) geschwächt sind und oft keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und einer schützenden Behausung haben.
Diese Zahlen beweisen, dass Indien immer noch ein sehr armes Land ist, und sie erklären das Paradoxon, dass ein Staat durchaus eine potente und leistungsfähige Schicht von 300 Millionen Mittelklasse-Bürgern haben kann und gleichzeitig eine Bevölkerung, die (laut Welternährungsorganisation) ein Viertel der rund 800 Millionen hungernden Menschen der Welt beherbergt. Der jüngste National Family Health Survey, der vor einigen Monaten vom Ministerium für Kinder- und Familienwohlfahrt herausgebracht worden ist, zeigt, dass Mangelernährung bei Kindern unter sechs Jahren in den vergangenen acht Jahren lediglich um einen Prozentpunkt (von 47 auf 46 %) zurückgegangen ist - was bei einer jährlichen Bevölkerungszunahme von 1,6 % in absoluten Zahlen eine Zunahme bedeutet. Jedes zweite indische Kind unter sechs Jahren ist also mangelernährt - eine Statistik, die Indien noch hinter dem Afrika südlich der Sahara, der ärmsten Region der Welt, rangieren lässt. Laut UNICEF sterben jährlich 2,1 Millionen indische Kinder, bevor sie fünf geworden sind (weltweit: 9,7 Millionen).
Erweist sich der "Sicker-Effekt" eines raschen Wachstums zugunsten der Armutsverringerung damit als Wunschdenken? Das Modell einer marktwirtschaftlich orientierten demokratischen Gesellschaft sieht vor, dass der Staat aufgrund demokratischer Kontrollen gezwungen ist, einen Ausgleich zu schaffen. Die große Mehrheit der Armen, so müsste man meinen, wird mit ihrem Wahlzettel dafür sorgen, dass der Staat sie an den Früchten des wachsenden Wohlstands beteiligt - sonst werden seine Repräsentanten aus dem Amt vertrieben. Der Markt mit seiner Tendenz zur Belohnung der Starken und Bestrafung der Schwachen wird gemäß der Theorie also durch die Demokratie im Zaum gehalten, da sie den Staat in den Worten von Premierminister Manmohan Singh dazu zwingt, "Gerechtigkeit und Effizienz in ein Gleichgewicht zu bringen".
Die Realität ist indes eine andere. Während sechzig Jahren hat sich ein obrigkeitlicher Staat zum Schiedsrichter und Vermittler von Markt und Demokratie gemacht und damit zum Verwalter der Umverteilung des wachsenden Volksvermögens. Doch statt eines gut geölten Transmissionsriemens ist er eine Pipeline geworden, in der mehr versickert als ans Ziel transportiert wird. Der Ressourcenfluss, ob als Steuern oder als Schmiergelder, gibt den staatlichen Akteuren einen potenten Anreiz, sich zu bereichern und dafür zu sorgen, an den Schaltstellen der Macht zu bleiben. Die Milliarden von Rupien für die Armen ernähren zunächst einmal die Überbringer des Geldsegens. Dies muss nicht einmal nur Korruption sein. Jairam Ramesh, ein Junior-Minister im Kabinett von Manmohan Singh, hat kürzlich erklärt, von 100 Rupien würden 85 vom delivery system absorbiert - also vom Apparat, der die Mittel den Armen zukommen lassen müsste.
Ein Beispiel: Indien hat zwölf Millionen Lehrer. 25 % davon stehen nur auf der Lohnliste und sind gar keine Lehrer - sie haben sich den Beamtenjob ergattert, weil sie einen Politiker kennen, der sich für diese Pfründe bezahlen ließ. Von den restlichen 75 %, den "richtigen Lehrern", geben nur die Hälfte regelmäßig Schulunterricht. Viele von ihnen pflegen ein System, wie es die Mafia betreibt, wenn sie Geschäftsleute bedroht und ihnen dann Schutz anbietet: Die Lehrer schwänzen die Schule, was die Eltern zwingt, Privatunterricht für ihre Kinder zu organisieren, der dann von denselben Lehrern angeboten wird, die sich damit ein lukratives Nebeneinkommen sichern.
16 Jahre Wirtschaftsreformen haben den Markt von zahlreichen staatlichen Fesseln befreit, die Institution des Staats aber keineswegs delegitimiert. Denn die weiter grassierende Armut ist ein starkes Argument für dessen Selbsterhalt, gerade in einer demokratischen Gesellschaft. Allein der Zentralstaat unterhält 240 Armutsprogramme, die von Schulbuchsubventionen für einige Dutzend Ureinwohner auf den Andamanen bis zu Mammutprogrammen wie der Ländlichen Beschäftigungsgarantie gehen, welche im Jahr 270 Milliarden Rupien kostet - rund 5 Milliarden Euro. Die anhaltende Armut ist ein perfektes Alibi für Bürokraten und Politiker, ihren Job zu behalten und Gesellschaft und Wirtschaft weiterhin zu schröpfen. Früher waren die Opfer auf beiden Seiten zu finden - bei den Unternehmern wie den landlosen Wanderarbeitern. Heute sind die Unternehmer nicht mehr Opfer. Sie dürfen Gewinne erzielen, und ihre Investitionen sind ein wichtiges Antriebsmittel des raschen Wachstums. Sie können damit aber auch, sogar leichter als früher, das staatliche System nach Belieben manipulieren. "Die Regierung ist in unserer Tasche. Sie macht genau das, was wir wollen", sagte kürzlich ein indischer Banker unverblümt auf einer Investoren-Konferenz in Zürich.
Die Opfer sind die Armen. Der Plan der Regierung, Sonderwirtschaftszonen einzurichten, hat in den vergangenen drei Jahren zu zahlreichen Protesten geführt. Viele Bauern fürchten, ihr bisschen Land zu verlieren - das Einzige, was ihnen das Überleben sichert. Die Politiker sahen sich gezwungen, das Gesetz für Landenteignungen durch den Staat so zu ändern, dass Bauern beim Verkauf Realersatz und in den neu angesiedelten Industrien eine Jobgarantie bekommen. Im Oktober 2007 wurde der neue Gesetzesvorschlag dem Parlament just in dem Augenblick vorgelegt, als sich ein dreiwöchiger Protestmarsch von 25 000 Landlosen auf Neu Delhi zubewegte. Das Gesetz, so der Minister für ländliche Entwicklung Raghuvansh Prasad, werde mehr Markt und damit Wachstum garantieren, sei sozial abgefedert. Es sichere der Industrie neue Produktionsstandorte und lasse die Armen mit Jobs am Wachstum teilhaben. Das Kleingedruckte zeigte dann aber ein anderes Gesicht. Die Bauern erhalten zwar Realersatz ("land-for-land"), aber nur, wenn freies Land auch "verfügbar" ist. Jobangebote werden nur dann garantiert, wenn dies für die Unternehmer auch "ökonomisch sinnvoll" ist - zwei perfekte legale Schlupflöcher, um die Unternehmen aus ihrer Pflicht zu entlassen.
Der wirtschaftliche Boom demonstriert die Energie einer reifen Unternehmerklasse und den Konsumhunger einer wachsenden Mittelschicht, die während Jahrzehnten zum Konsumverzicht gezwungen war. Er kaschiert aber gleichzeitig die Pathologie eines korrupten und ineffizienten Staats. Natürlich muss der Staat immer wieder Rechenschaft ablegen - Indien ist demokratisch und hat freie Medien. Die 324 Fernsehkanäle sind inzwischen zwar in erster Linie eine Plattform für neue Konsumangebote. Dennoch schauen sie auch den Politikern auf die Finger, und mehr noch tut es die geschriebene Presse.
Auch das Damoklesschwert demokratischer Wahlen zwingt die Politiker ständig, neue Armutsprogramme und das Idealbild "inklusiven Wachstums" zu verkünden. Das jüngste Beispiel ist die Schuldentilgung für Kleinbauern in Höhe von 600 Milliarden Rupien (11 Milliarden Euro), die Finanzminister Palaniappan Chidambaram Ende Februar 2008 in seinem letzten Haushalt vor den nächsten Gesamtwahlen präsentiert hat. Die zahlreichen Bauernselbstmorde der vergangenen 14 Jahre - sie werden auf 140 000 geschätzt - sind meist die Folge tiefer Verschuldung. Das Schuldenmoratorium mag bei den nächsten Wahlen politische Zinsen abwerfen, aber es wird über eine Pipeline abgewickelt, die notorisch leck ist und die dafür sorgen wird, dass sie auch (einfluss)reichen Großbauern helfen wird, ihre Bankschulden zu tilgen. Zudem warnen Experten, dass der Schuldenerlass einen populistischen Wettkampf auslösen könnte, bei dem Politiker sich auch für die Tilgung anderer Schuldnerkategorien stark machen und damit das ländliche Kreditsystem an den Rand des Kollapses führen.
Allerdings wäre es falsch, die Veränderungen der vergangenen 16 Jahre auf deren statistische Werte zu reduzieren. Die Dynamisierung der Wirtschaft ist dabei, auch das Selbstverständnis und Selbstvertrauen des Landes tiefgreifend zu verändern. Als sich Indien vor 17 Jahren vorsichtig dem Ausland und dem Markt öffnete, war die Skepsis, ja die Angst, weit verbreitet, dass das Land es niemals schaffen würde, sich aus seinem Los zu befreien. Sogar die Unternehmer-Elite war überzeugt, dass sie von der internationalen Konkurrenz weggeschwemmt würde, falls die Zoll- und Investitionsschranken fielen. Der "Bombay Club", eine lose Gruppierung von jungen Unternehmern, appellierte an die Regierung, die Zölle nur vorsichtig zu senken und Auslandsinvestitionen nur tröpfchenweise zuzulassen. Die Gefahr einer feindlichen Übernahme sei einfach zu groß. Die jahrzehntelang abgeschottete Wirtschaft drohe von den rauen Winden der internationalen Konkurrenten weggeblasen zu werden. Der Misserfolg von vierzig Jahren erfolgloser Entwicklungspolitik saß tief in den Knochen. Man machte den Volkscharakter dafür verantwortlich und stellte eine historische Verbindung zu der Leichtigkeit her, mit der Indien im Lauf seiner Geschichte immer wieder von fremden Mächten unterjocht worden war. Besonders die britische Kolonialherrschaft war in den Köpfen noch stark präsent. Stellte man als ausländischer Beobachter die Frage, warum die Reformen so zaghaft waren, warum ausländisches Kapital und Waren noch immer so viele Hürden zu überspringen hatten, hörte man oft die Erklärung: "Vergessen Sie nicht, dass die East India Company, die uns eroberte und hundertfünfzig Jahre lang beherrschte, eine Handelsgesellschaft war."
Heute ist dieses Argument kaum mehr zu hören. Es kann im Gegenteil vorkommen, dass man einen anderen historischen Vergleich vorgesetzt bekommt: "Im 16. Jahrhundert waren China und Indien wirtschaftliche Weltmächte - jede von ihnen steuerte ein Viertel zum globalen Handel bei, so viel wie die übrige Welt zusammen." Das mag eine lange Zeit her sein, und dank Feudalismus und Kolonialherrschaft war der Anteil im Fall Indiens auf unter 1 % gesunken. Aber nun, nach 15 Jahren Öffnung, sind es bereits wieder 1,5 % - eine kleine Zahl zwar, aber eine, die sich rasch verändert.
Die Erfahrung der vergangenen 17 Jahre hat den Unternehmern, die sich bisher als Opfer des Staats gesehen haben, bewiesen, dass sie diese Opferrolle auch Überlebensstrategien gelehrt hat. Das bürokratische Damoklesschwert hatte sie gezwungen, hart zu rechnen, Kosten zu senken, die Produktivität zu erhöhen, das Beste aus ihren alten Maschinen zu holen, ihre Kader zu verschworenen Gemeinschaften zu machen. Als sie dann plötzlich ins Haifischbecken der globalen Wirtschaft geworfen wurden und selber schwimmen mussten, stellten viele erstaunt fest, dass sie außerordentlich fit waren, so fit, dass die frische Luft des Marktes wie ein Lebenselixier wirkte. Es ist bekannt, dass der Stahlkönig Lakshmi Mittal die Grundlagen seines Reichtums mit dem Kauf abgewirtschafteter Stahlschmieden überall auf der Welt schuf. Weniger bekannt ist, dass er dies erreichte, indem er die Kaderstellen mit Indern besetzte, die daheim gelernt hatten, im harten Gegenwind zu überleben. Doch es ist nicht nur die Industrieelite, die den Wandel Indiens kennzeichnet. Die Einstellungsänderung von einem tiefsitzenden Pessimismus zu einem lockeren Selbstvertrauen geht weit in die ärmeren Bevölkerungsschichten hinein.
Eine kürzliche Begegnung in einem Slum am Stadtrand von Neu Delhi illustriert diese Befindlichkeit. Die siebzehnjährige Kusum wurde vor drei Jahren mit ihrer Familie - und 150 000 anderen Slumbewohnern - aus der Hüttenstadt Jamunapushta entlang des Jamuna-Flusses vertrieben. Die Stadtregierung walzte mit Bulldozern 50 000 Häuser nieder, Teil des Plans, für die Commonwealth Games von 2010 Neu Delhi in eine "Weltklasse-Stadt" zu verwandeln. Kusums Familie stand wieder auf der Straße und musste sich weit außerhalb der Stadt auf freiem Feld eine neue Hütte bauen, zusammen mit Zehntausenden von Vertriebenen. Doch statt mit ihrem Schicksal zu hadern, sah das Mädchen die Entwurzelung als neue Chance. Eine NGO brachte ihr Lesen und Schreiben bei, und inzwischen unterrichtete Kusum in einer "Gassenschule" in Bawana. Die Schule hieß so, weil es am neuen Wohnort keine richtigen Schulen gibt. Die Kinder saßen im Freien, auf der Straße, in der Mitte war eine Tafel aufgestellt. Kusum brachte den Fünfjährigen das Addieren bei, sang mit ihnen, organisierte Versteckspiele, bei denen die Kinder Plastikabfälle sammelten. Ihre Trauer über den Umzug hatte sie überwunden, und die Not des neuen Wohnorts überspielte sie mit der Entschlossenheit, etwas Besseres anzustreben. Zuerst träumte sie davon, Ärztin zu werden. Doch als sie mit der Gassenschule begann, sah sie, dass sie Lehrerin werden wollte: "So kann ich Menschen formen. Es ist noch besser, als Ärztin zu sein. Ich kann ihnen nämlich helfen, Ärzte zu werden."
Traum statt Trauma: Kusum symbolisiert die Energie von Menschen, die nichts zu verlieren haben - und deshalb alles zu gewinnen. Mit ihrem lächerlich kleinen Lohn von 25 Euro im Monat half sie ihrem Vater, eine neue Hütte aus richtigen Backsteinen zu bauen. Das Einzimmer-Häuschen, so einfach es war, stach heraus aus den Bast- und Blechwänden der benachbarten Hütten. Es war wenig - aber genug, um sich von der Hoffnungslosigkeit abzusetzen: "Am Anfang war ich sehr zornig, wenn ich die vielen Leute sah, die reich sind. Heute sehe ich, wie vielen Leuten es noch schlechter geht als uns."
500 Millionen Inder sind heute beinahe so alt oder jünger als Kusum. Sie bilden die viel beschworene "demografische Dividende", die dafür sorgen wird, dass in den nächsten fünfzehn Jahren 274 Millionen Inder ins arbeitsfähige Alter eintreten - während die Zahl der Zuzügler in den Arbeitsmarkt der Industrieländer, und selbst Chinas, immer mehr abnimmt. Doch wird die demografische Dividende auch ausgezahlt werden, oder wird es eine demografische Hypothek werden? Neben den Gassenschulen und der schnell steigenden Einschulungsrate gibt es auch eine andere Statistik: Die Hälfte der eingeschulten Kinder verlassen die Schule vor dem fünften Schuljahr. Ein Drittel von ihnen, so schätzt UNICEF, leidet an Wachstumsstörungen und wird deshalb wohl nie in den Vollbesitz seiner intellektuellen Kapazitäten kommen. Sie repräsentieren auch ein Potential für soziale Konflikte, welche das Vorwärtskommen der Gesellschaft verlangsamen statt es zu beschleunigen.
Solange Indien nicht fähig ist, seine Armen an Bord zu nehmen - bzw. die zahlreichen lecken Boote wieder fahrtüchtig zu machen -, wird es auch die globale Machtrolle nicht einnehmen können, die ihm viele Beobachter voraussagen und die ebensoviele Beobachter, namentlich im Westen, fürchten. Zwar wird die Gesellschaft immer mehr Güter und Dienstleistungen und globale Unternehmen produzieren. Gleichzeitig wird der breite Armutssockel weiterhin nur langsam abnehmen, weil ein ineffizienter Staat nicht fähig ist, die arme Mehrheit an diesem Wachstum zu beteiligen. Nobelpreisträger Amartya Sen hat kürzlich gesagt, es gehe nicht an, dass sich Indien zu einer Gesellschaft entwickle, in der ein Teil Kalifornien sei und der andere Schwarzafrika. Solange das Land diesen Widerspruch nicht abgemildert hat, wird man sich weiterhin für Indien fürchten müssen - und nicht vor ihm.