Sowjetunion
Der Historiker Bogdan Musial glaubt an die Pläne Stalins für einen Angriff auf Deutschland
Jeder Historiker träumt davon, in den staubigen Archiven auf sensationelle neue Quellen zu stoßen. Dabei wird sich ein Wissenschaftler, der etwas auf sich hält, nur mit einem Fund zufrieden geben, der zumindest den bisherigen Forschungsstand auf den Kopf stellt. Begehrlichkeiten dieser Art weckt nach wie vor die Epoche vor dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings gibt es ein Problem: Auf die neue Historiker-Generation warten immer weniger unentdeckte Dokumente.
Dessen ungeachtet glaubt Bogdan Musial durch seine Forschungen in den russischen Archiven nachgewiesen zu haben, dass Stalin einen Angriffskrieg gegen Deutschland plante. Damit unterstützt der Autor indirekt die Theorie des deutschen Präventivkriegs gegen Russland. Um seine These zu belegen, schreibt Musial die ganze Geschichte der Sowjetunion um. Gleichzeitig vermittelt er den Eindruck, als ob der Angriff auf Hitler-Deutschland das zentrale Anliegen der Sowjetunion gewesen sei.
Es stimmt: Die beiden Theoretiker der Weltrevolution, Wladimir Lenin und Lew Trotzki, begrüßten das Übergreifen der Oktoberrevolution auf Deutschland. Das Scheitern der Aufstände in Westeuropa und die militärische Niederlage gegen Polen 1920 zerstörten ihren Traum von der Weltrevolution jedoch nachhaltig. Für den Realisten Lenin war der Machterhalt in Russland wichtiger als revolutionäre Abenteuer mit ungewissem Ausgang. In seiner Dialektik und seinem marxistischen historischen Materialismus vertrat er die Auffassung, dass die sozialistischen Ziele nur in bestimmten historischen Epochen erreicht werden können. Schließlich handelte es sich beim Marxismus-Leninismus nicht um ein Dogma, wie Stalins pragmatische Umsetzung in der Sowjetunion bewiesen.
Auch wenn Musial aus Stalins Reden zitiert und andere kleine Andeutungen als Beweise für dessen vermeintliche Kriegspläne präsentiert, insgesamt reichen sie nicht aus, um den Leser von der Existenz eines sowjetischen Angriffsplans zu überzeugen. Vor allem genügen die Ausführungen Michail Tuchatschewskijs nicht als Beleg: 1930 hatte er eine massive technische Modernisierung der Armee gefordert, um gegen einen potenziellen Aggressor bestehen zu können. Und auch aus Stalins Geheimrede vom 5. Mai 1941 geht nicht hervor, dass der Diktator einen gezielten Angriff auf Deutschland plante. Vielmehr ist sie ein Beleg dafür, dass er einen Krieg gegen das bis dahin befreundete Regime nicht länger ausschloss. Auch kann der Rede nicht entnommen werden, dass der Pragmatiker Stalin plötzlich die ideologische Forderung nach der Notwendigkeit revolutionärer Kriege in die Tat umsetzen wollte.
Nach der militärischen Niederlage gegen Polen hatten sich die Bolschewiki auf den Aufbau des Sozialismus in ihrem Staat konzentriert. Dazu mussten die "konterrevolutionären Elemente" ausgelöscht werden. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als fraglich, ob man die Innenpolitik der kommunistischen Partei und Stalins als Kriegsvorbereitung werten darf. Vielmehr wollte der Diktator sein kommunistisches Regime durch Massenterror festigen. Auch wenn er diese Politik als "Stärkung des eigenen Hinterlandes" bezeichnete, ist sie noch lange nicht mit Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland gleichzusetzen. Seit wann ersetzt Propaganda Marschbefehle?
Tatsächlich hatte sich Musial vorgenommen, die sowjetische Innen- und Außenpolitik "abseits der kommunistischen Propaganda" nachzuzeichnen. Ist er am Ende doch in deren Falle getappt? Nimmt er jede Äußerung Stalins für bare Münze? Ein Angriffskrieg - wie der rote Zar nur zu gut wusste - konnte in einer Niederlage enden. Der Krieg gegen Finnland hatte ihm dies zuletzt 1939/40 demonstriert. Welchen Sinn sollte es zudem haben, Deutschland anzugreifen, zumal beide Staaten seit Rapallo kooperierten und es mit der "schwarzen Reichswehr" eine befreundete Armee gegen die imperialistischen Hauptfeinde Großbritannien, Frankreich und deren "Marionette" Polen gab?
Leider widmet der Autor diesem wichtigen Kapitel der sowjetisch-deutschen Beziehungen nur wenige Zeilen. Stattdessen erfährt der Leser viel über das Wodka-Monopol, das einzig dem Ziel diente, die Rote Armee und die Industrialisierung des Landes zu finanzieren. Handle es sich um die Enteignung der Bauern, die Kollektivierungspolitik oder den Aufbau der Rüstungsindustrie - alle Einzelmaßnahmen interpretiert der Autor immer nur als Stalins Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland.
Der gebürtige Pole Bogdan Musial erhielt 1985 in Deutschland politisches Asyl, studierte Geschichte und wurde 1992 eingebürgert. Zurzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts des Nationalen Gedenkens in Warschau. Abgesehen von Stalins Angriffsplänen auf Deutschland ist er davon überzeugt, dass der kommunistische Massenterror in den 1930er-Jahren in der Sowjetunion und in den besetzten Gebieten mehr Opfer forderte als der Nazi-Terror. Damit positioniert sich Musial als Kämpfer gegen die sowjetische Propaganda und deren "Mythos", unschuldiges Opfer des Zweiten Weltkrieges zu sein. Will er so vergessen machen, dass Hitler-Deutschland die Sowjetunion am 22. Juni 1941 angegriffen hat?
Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen.
Propyläen Verlag, Berlin 2008; 586 S. 29,90 ¤