Familienbilder
Unterhaltsrecht, Krippenausbau und Kinderfreibeträge: der Streit um das Kindeswohl
Politiker nehmen für sich gern in Anspruch, das "Kindeswohl" im Blick zu haben. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) preist in dieser Weise die Reform des Unterhaltsrechts an. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) wirbt für den Krippenausbau mit den Chancen der Kinder auf frühkindliche Bildung. Und die CSU kämpft für die Einführung eines Betreuungsgeldes, das Eltern erhalten sollen, wenn sie auf einen Krippenplatz verzichten. "Denn staatliche Förderung darf nicht in ein bestimmtes Familienbild hineingängeln", argumentiert der CSU-Familienexperte Johannes Singhammer.
Das Kindeswohl hat viele Facetten. Ebenso ist die rechtliche Stellung der Kinder vielschichtig. Worauf hat ein Minderjähriger hierzulande Anspruch? Was dient tatsächlich dem Kindeswohl - und wo wird dieses nur vorgeschoben?
Wie schwierig die Antwort auf diese Fragen ist, zeigt sich beim neuen Unterhaltsrecht. Seit 1. Januar gilt, dass im Scheidungsfall die Unterhaltsansprüche von Kindern Vorrang haben vor denen der geschiedenen Ex-Partner. Im zweiten Rang folgen die Ansprüche der Mütter kleiner Kinder, unabhängig davon, ob sie mit dem Unterhaltsverpflichteten verheiratet waren oder nicht. Die Geschiedenen müssen heute eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, wenn ihr jüngstes Kind drei Jahre wird. Bisher dauerte die Schonzeit mindestens acht Jahre. Diese Reform als Stärkung des Kindeswohls zu verkaufen, ist, gelinde gesagt, irreführend. In den meisten Fällen verdient der Unterhaltspflichtige nicht genügend, um alle Ansprüche abzudecken. In der Praxis galt schon bisher, dass die materiellen Bedürfnisse der Kinder, ob ehelich oder nicht, Vorrang vor allem anderen haben.
Bei der Reform ging es also gar nicht um eine Stärkung der Kinderrechte. Das Revolutionäre der Neuregelung ist vielmehr die völlige Relativierung der Bedeutung der Ehe. Für die Berechnung der Unterhaltsansprüche spielt es jetzt keine Rolle mehr, ob man einmal verheiratet war. Nicht nur für Ex-Ehefrauen, sondern auch für das Gros der Scheidungskinder dürfte die Reform mit Nachteilen verbunden sein. Denn selbst eine Mutter mit mehreren Kindern ist laut Gesetz nun genötigt, sich eine Erwerbsarbeit zu suchen. Oft wird eine Ganztagsbetreuung erforderlich sein, um als Alleinerziehende Familie und Job unter einen Hut zu bekommen. Ob gerade Trennungskinder von einem solchen Leben profitieren, ist zweifelhaft.
Auch in materieller Hinsicht werden viele Kinder zu den Verlierern zählen. Findet die Mutter keinen Job oder nur einen schlecht bezahlten, stürzt nicht nur sie, sondern auch ihr Nachwuchs sozial ab.
Die Reform des Unterhaltsrechts betrifft indes nicht bloß die Familien, die auseinanderbrechen, sondern die gesamte Gesellschaft. Künftig werden sich die jungen Frauen kaum mehr auf traditionelle Rollenmuster einlassen. Die Justizministerin rät ihren Geschlechtsgenossinnen, ihren Beruf künftig nicht mehr wegen der Familie an den Nagel zu hängen. Denn nur wer entweder auf Kinder verzichtet oder rasch nach der Geburt wieder in die Arbeitswelt zurückkehrt, hat eine Chance, im Trennungsfall abgesichert zu sein.
Angesichts der weitreichenden gesellschaftlichen Folgen gibt es mittlerweile viele Kritiker, die die Reform des Unterhaltsrechts nicht nur als ehe-, sondern auch als kinderfeindlich einstufen. Die erste Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ist bereits eingegangen.
Ähnlich kontrovers wird auch die Debatte über die Krippenoffensive der großen Koalition geführt. Nach den Plänen der Regierung soll sich die Anzahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige bis 2013 auf 750.000 verdreifacht haben. Ab 2013 wird es einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geben. Die Politik lässt sich den Krippenausbau 12 Milliarden Euro kosten. Die SPD kämpft seit längerem schon dafür, einen größeren Teil der staatlichen Familienförderung in die Infrastruktur zu stecken und dafür Familien weniger finanziell zu entlasten.
In ihren familienpolitischen Leitlinien haben sich die Sozialdemokraten dafür ausgesprochen, das Kindergeld einzufrieren und die steuerlichen Kinderfreibeträge sogar zu kürzen. Über Sachleistungen wie kostenlose Schulspeisungen oder Betreuungsangebote könne sichergestellt werden, dass die Familienförderung auch tatsächlich bei den Kindern ankomme, argumentiert die SPD. "Mit einer besseren Betreuungsinfrastruktur wollen wir sicherstellen, dass alle Kinder gleiche und gute Startchancen haben", sagt die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, Kerstin Griese (SPD).
Das Recht der Kinder auf Bildung drückt sich in Deutschland vor allem im kostenlosen staatlichen Schulangebot aus. Auch der Kindergartenbesuch dient neben der Betreuung auch der Förderung der Kinder. Ob jedoch unter Dreijährige schon vom Besuch einer Krippe profitieren, ist unter Experten umstritten. Zumal die Qualität der hiesigen Kitas zu wünschen lässt: Die Gruppen sind zu groß, die Erzieher unzureichend ausgebildet. Offensichtlich ist der Staat nicht der gute Vater, als der er sich gern ausgibt.
Ein Verstoß gegen die im Grundgesetz verankerten Rechte der Kinder wäre die diskutierte Kürzung der Kinderfreibeträge. Schließlich hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem so genannten Familienurteil selbst den Gesetzgeber zu einer deutlichen Anhebung gezwungen. Das Existenzminimum darf nicht besteuert werden. Dieser Grundsatz gilt sowohl für Erwachsene wie auch für Kinder. Das Existenzminimum umfasst dabei auch Ausgaben für Bildung und Betreuung, und zwar unabhängig davon, ob das Kind zu Hause oder in einer Einrichtung betreut wird.
Anders als die Politik oft suggeriert, handelt es sich somit beim Kinderfreibetrag auch nicht um eine Förderung, sondern lediglich um die korrekte Anwendung des Steuerrechts. Das Kindergeld schlägt beim Fiskus jährlich mit 34 Milliarden Euro zu Buche. Doch auch diese Summe ist zu zwei Dritteln nur der Ausgleich dafür, dass die Eltern ansonsten zu viel Steuern zahlen müssten. Wer Kürzungen bei dem Kindergeld oder den Kinderfreibeträgen fordert, um mit den Einsparungen staatliche Angebote zu finanzieren, droht am Bundesverfassungsgericht zu scheitern. Denn die obersten Richter haben dem Gesetzgeber schon mehrfach auf die Finger geklopft, weil der Staat dazu neigt, Familien zu viel Steuern und Abgaben abzuverlangen.
Auf den ersten Blick erscheint es erstaunlich, dass Politiker in der Frage des Kindeswohls zu diametral unterschiedlichen Antworten kommen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass dem Streit unterschiedliche Sichtweisen zugrunde liegen. Die "Staatsgläubigen" betrachten das einzelne Kind als eigenständiges Individuum, das bestmöglich gefördert werden soll. Die "Traditionalisten" verstehen hingegen die Familie als Einheit und zielen deshalb darauf ab, über die Entlastung der Familie auch das Kind zu stärken. Und nur im Notfall, also bei Vernachlässigung oder Misshandlung, sollte der Staat die Hauptrolle in der Erziehung übernehmen. Das Grundgesetz folgt - bisher noch - eindeutig der letzteren Sichtweise.
Die Autorin ist Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion der "Welt".