Vernachlässigung
Fürsorge ist keine Frage des Geldes
Anfangs glaubten die Mitarbeiter des Kinder und Jugendtelefons in Berlin noch an Scherzanrufe. Doch inzwischen nehmen sie es sehr ernst, wenn Kinder und Jugendliche bei ihnen anrufen und über Langeweile klagen. "Die Jugendlichen wissen immer häufiger gar nichts mit sich anzufangen", berichtet Projektleiterin Uta Knauer aus ihrer Erfahrung. Es seien oft Kinder aus wohlsituierten Familien, in denen beide Eltern arbeiteten, bei denen sich offenbar das Gefühl von Leere breit mache. "Wer die Erfahrung macht, dass hier Erwachsene sind, die einen ernst nehmen, ruft wieder an."
Angesichts der Zunahme solcher Telefonate spricht auch der Leiter der Telefonseelsorge Berlin, Uwe Müller, inzwischen von einer verbreiteten "Wohlstandsverwahrlosung". Viele Kinder säßen allein zu Hause, fühlten sich einsam und orientierungslos. Bei anderen jage ein Termin den nächsten, so dass die Kinder von Montags bis Freitags mit Judo, Fußball und anderen Aktivitäten besetzt seien. "Die sind dann in soviel Gruppen aktiv, dass sie nirgendwo heimisch werden und sich keine Freundschaften entwickeln können", sagt Müller. "Die Eltern denken, dass sie den Kindern etwas gutes tun, aber sie überfordern die Kinder damit."
Zu Hause herrsche zwischen vielen Eltern und Kindern vor allem eine große Sprachlosigkeit, sagt Müller. Am Telefon versuchen die Mitarbeiter dann ins Gespräch zu kommen. "Die testen oft die Reaktionen von Erwachsenen aus", sagt Müller. Oft sei er erstaunt über das Ausmaß der Ratlosigkeit, wenn es um die erste Liebe und die eigene Sexualität ginge. Zudem gebe es immer häufiger Jugendliche die klauten, obwohl sie genug Taschengeld hätten. Da die beruflichen Anforderungen immer mehr stiegen, kämen viele Eltern heute erst um 20 Uhr nach Hause. "Bei zwei Elternteilen geht das ja noch, aber bei Alleinerziehenden."
Bislang ist dieses Phänomen der Wohlstands- oder auch Luxusverwahrlosung wenig erforscht, sagt die Sprecherin des Deutschen Jugendinstituts in München, Andrea Macion. In der Praxis dagegen ist längst zu spüren, dass Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen keineswegs schichtspezifisch ist. Die Erfahrung von Fachleuten ist vielmehr, dass es offenbar stark tabuisiert wird, massive Probleme in wohlsituierten Familien einzuräumen.
Auch die Leiterin des Jugendamtes Steglitz-Zehlendorf Ilka Biermann weiß aus eigener Erfahrung, dass die Probleme der Familien in ärmeren Problemstadteilen sich von denen wohlsituierter nicht sehr unterscheiden. Viele Schwierigkeiten träten vor allem in der Pubertät auf, wenn beispielsweise ab zwölf Jahren für die "Lückenkinder", wie sie sie nennt, die Hortbetreuung in den Schulen wegfalle. Teenager suchten Auswege in Drogen, oder würden depressiv, Mädchen würden immer häufiger magersüchtig. Auch Familien aus bürgerlichen Familien benötigten Hilfe und Unterstützung bei der Erziehung, vor allem viele alleinerziehende Mütter, die als Lehrerinnen oder Rechtsanwältinnen beruflich stark unter Druck stünden.
Drogenexperten vermuten schon länger einen Zusammenhang zu Alkohol-Exzessen wie dem "Koma-Saufen". Die Berliner Drogenbeauftragte Christine Köhler-Azara sagte in einem Interview, dass gerade die besser situierten Jugendlichen Gefallen am massiven Trinken fänden. "Es gibt eine Art von Wohlstandsverwahrlosung in den besser gestellten Bezirken. Dort hat die Zahl der mit Alkoholvergiftungen eingelieferten Jugendlichen stark zugenommen, sie ist sogar höher als in den sozial benachteiligten Bezirken." Dies habe vermutlich damit zu tun, dass manche Eltern aus sozial bessergestellten Schichten zwar Geld, aber kaum Zeit für ihre Kinder hätten.