Sozialpolitik
Christoph Lixenfeld rechnet mit der Pflege in Heimen ab - er setzt auf ambulante Betreuung
Rüstig, gesund, strahlendes Lachen: Zufrieden schaut sie den Leser an, die ältere Dame auf dem Buchcover. Glücklich ist, wer nicht als Pflegefall ins Heim muss. Doch Krankheit, Hilfsbedürftigkeit, gar Demenz, all das macht auch um das häusliche Dasein alter Menschen keinen Bogen. Aber journalistische Zuspitzung darf natürlich sein. Mit der spart Christoph Lixenfeld ohnehin nicht. Der Autor kapriziert sich gar nicht mal auf Schockstorys über wundgescheuerte oder halbverdurstete Pflegepatienten. Für ihn ist ein Heimaufenthalt an sich von Übel: keine Zeit und Zuwendung für die Senioren, meist platz- und kostensparende Unterbringung. Das Land werde zugepflastert mit Billigheimen, gefüllt von einer profitorientierten Betreiberlobby sowie knauserigen Kostenträgern. Lixenfeld spricht von der "Kasernierung einer ganzen Altersgruppe": "Legebatterien bleiben Massentierhaltung, auch mit Qualitätszertifikat."
Dass sich für nicht wenige Ältere angesichts ihres Zustands und der häuslichen Umstände ein Heim als Segen erweisen kann, lässt der Journalist außer Acht. Immerhin räumt er ein, dass es "ganz ohne Heime" nicht gehen werde, doch diese Lösung müsse vom "Normalfall zur Ultima Ratio werden". Das Buch versteht sich als Abrechnung mit dem System der Pflegeversicherung. Dieses Aufspießen der Schwachstellen darf, Polemik hin oder her, als sachlich profund bezeichnet werden. Lixenfeld mischt Analysen mit reportagehaften Schilderungen exemplarischer Einzelschicksale, Info-Kästen und Interviews mit ausgewiesenen Fachleuten.
Als einen Konstruktionsfehler der Pflegeversicherung geißelt der Verfasser den "Verrichtungsbezug", die Abrechnung ambulanter Dienste mit der Kasse nach Sachleistungen: "Mund- und Zahnpflege kosten 2,20 Euro, Kämmen 88 Cent, Bettenmachen 2,20 Euro, Hilfe bei der Blasen- und Darmentleerung 4,40 Euro" - eine kalte Zahlenwelt. Da bleibt kaum Zeit für Persönliches. Eine anderes Problem aus Lixenfelds Sicht: In den unteren Pflegestufen wird ein Heimaufenthalt besser vergütet als eine ambulante Versorgung. Dies lasse Sozialbehörden auf eine Verlegung ins Heim dringen, weil dies billiger für die Kommune sei. Ein weiteres Manko: Kranken- und Pflegeversicherung sind getrennt. Krankenkassen hätten kein Interesse an medizinischer Behandlung, die möglicherweise gesundheitliche Besserung verspricht: Das müssten sie selbst bezahlen, während ein stationärer Aufenthalt zu Lasten der Pflegekasse gehe.
Indes kann wohl nicht davon die Rede sein, dass das Abschieben gebrechlicher Älterer in Einrichtungen der "Normalfall" ist. Lix-enfeld erwähnt selbst, dass von den gut 2,1 Millionen Pflegebedürftigen fast 70 Prozent im eigenen Umfeld ambulant versorgt werden. Auch führt er an, dass knapp 40 Prozent der Heime kommerziell betrieben werden. Die Mehrheit gehört hingegen Trägern, die nicht gewinnorientiert sind und das Personal oft besser bezahlen als die private Konkurrenz. Zudem stehen in Heimen zunehmend Betten leer.
Aber natürlich möchte kaum jemand freiwillig ins Heim. Um einen Verbleib zu Hause so lange wie möglich zu erreichen, propagiert Lixenfeld das Pflegebudget: Hilfsbedürftige erhalten eine bestimmte Summe und "kaufen" sich nach Wunsch Leistungen, auch Zeiteinheiten. Wer aber garantiert, dass das Geld sinnvoll eingesetzt wird - zumal viele Betroffene gar nicht mehr zu solchen Entscheidungen in der Lage sein dürften? Der Autor schlägt Pflegestützpunkte und "Case Manager" vor, die beraten und das Ganze wohl auch unter Kontrolle halten sollen.
Lixenfeld lobt Bielefeld als Vorbild für ein neues Modell. In Kooperation mit der Stadt vermietet eine Wohnungsgesellschaft in einem Objekt acht von 50 Wohnungen an Pflegebedürftige. Die werden von einem ambulanten Dienst betreut, die Gelder verschiedener Kostenträger reichen sogar zur Finanzierung eines Cafés.
Heikel muten Lixenfelds Ideen in Sachen Knete an. Die häusliche Pflege geht nämlich für Betroffene wie Angehörige tüchtig ins Geld, selbst wenn mehr Kassenmittel zur ambulanten Versorgung umgeschichtet werden sollten. Der Verfasser fordert kurzerhand, die auf 100.000 geschätzten Osteuropäerinnen zu legalisieren, die in einer rechtlichen Grauzone in Privathaushalten helfen - und billiger sind als inländische Profis.
Die Kritik der Gewerkschaften an Lohndumping ficht Lixenfeld freilich nicht an: Es komme nur auf die "optimale Versorgung der alten Menschen" an. An anderer Stelle beklagt das Buch freilich den Rückgang sozialversicherungspflichtiger Jobs, was die Finanzierungsgrundlage der Pflegekasse aushöhle. Thematisiert wird dieser Widerspruch jedoch nicht.
Niemand muss ins Heim.
Econ Verlag, Berlin 2008; 285 S., 16,90 ¤