Gesellschaft
Heinz Bude zählt Millionen von "Ausgeschlossenen"
Der jüngste Armutsbericht der Bundesregierung hat unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die einst so breite Mittelschicht schrumpft immer weiter, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer klarer sichtbar. Und am Rande der Wohlstandsgesellschaft tummeln sich nicht mehr Tausende, sondern mittlerweile Millionen von "Ausgeschlossenen". Zu ihnen gehören nicht nur die üblichen "Verdächtigen" wie Obdachlose, Langzeitarbeitslose oder arme Alte. Zu ihnen zählen heute Menschen mit und ohne Hauptschulabschluss, "überqualifizierte" Akademiker, Scheinselbstständige oder sich von Job zu Job hangelnde Gering- und Garnichtqualifizierte. Menschen, die sich abstrampeln, den Anschluss nicht halten können und dabei ihr Selbstwertgefühl und damit den letzten Halt verlieren. So schätzt zumindest der renommierte Gesellschaftswissenschaftler Heinz Bude die soziale Lage der Nation ein.
Diese Situation wird sich seinen empirisch gestützten Beobachtungen zufolge noch weiter verschärfen, weil die Mittelschicht heutzutage nichts mehr fürchtet als das Schreckgespenst "Soziale Exklusion" und dementsprechend handelt respektive nicht handelt. Während die vom Ausschluss Betroffenen den Glauben an den sozialen Aufstieg längst verloren haben, klammern sich die potenziell vom Ausschluss Bedrohten an den Forschrittsglauben der Wohlsituierten und Erfolgreichen. Sie passen sich dem turbokapitalistischem Tempo an und beugen sich dem Diktat permanenter Lernbereitschaft, Flexibilität und Eigeninitiative. Und bestrafen aus Angst vor dem eigenen Abstieg die Abgehängten mit Verachtung und "belohnen" sie nur widerwillig mit den von ihren Steuern finanzierten Sozialleistungen.
Keine Frage, die von beiden Seiten vorangetriebene Abschottung treibt einen "Keil durch unsere Gesellschaft" und verhärtet die Fronten. Die vermeintlichen Gewissheiten der goldenen 50er- und 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind einer latenten Unruhe und Unsicherheit gewichen. Doch der von Bude verloren geglaubte "Traum von einer gerechten Gesellschaft" war auch im Zeitalter des Wirtschaftswunders nur eine Schimäre. Bereits Ludwig Erhard wusste um die übersteigerten Wohlstanderwartungen und ermahnte die Bundesbürger immer wieder zum Maßhalten. Bereits die erste Rezession 1966 versetzte die Republik in eine "Statuspanik". Freilich glaubten die Wohlstandverwöhnten noch an Vollbeschäftigung. Mit Solidarität und sozialer Gerechtigkeit hatte dieser Glauben aber nichts zu tun. Schon damals war sich jeder selbst der Nächste. Das Prinzip Leistung dominierte das Gerechtigkeitsprinzip schon immer.
Je stärker der bundesdeutsche Wohlstand vom verschärften globalen Wettbewerb bedroht scheint, desto stärker rückt dieses Prinzip wieder ins Bewusstsein. Und da ist es schon aufschlussreich, wenn Bude berichtet, wie alleinerziehende Mütter oder "verwilderte Jungmänner" in den urbanen "Anti-Ghettos" als "Ausgeschlossene" leben, denken und fühlen.
Doch es reicht gewiss nicht aus, sich als "unvoreingenommener" Wissenschaftler auf die exemplarische Beschreibung sozialer Zustände zu beschränken und der Regierung ihre mangelhafte Integrations- und Sozialpolitik vorzuwerfen. Insofern verschärft sich nicht nur die soziale Spaltung in der Gesellschaft - sondern auch die Spaltung zwischen den theoretischen Wissenschaften und der praktischen Politik.
Heinz Bude sollte über seinen gelehrten Schatten springen und wie die von ihm kritisierten Politiker ebenso über gerechte wie nachhaltige Strategien nachdenken. Aber auch den tatsächlich und potenziell "Ausgeschlossenen" darf mehr Selbstreflexion abverlangt werden. Die "Mehrheitsgesellschaft", der Staat und die Wirtschaft können für vieles, aber nicht für alles haftbar gemacht werden.
Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft.
Carl Hanser Verlag, München 2008; 144 S., 14,90 ¤