Deutscher Herbst
Die Akten zur Auswärtigen Politik 1977 lesen sich streckenweise wie ein Politthriller
Dass es ein Band aus der Reihe der "Akten zur Auswärtigen Politik" in eine große deutsche Boulevardzeitung schafft, ist eher ungewöhnlich. Normalerweise lassen die dicken Bände, die im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte herausgegeben werden, zwar die Herzen von quellenbegeisterten Historikern höher schlagen, die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit wecken sie aber eher selten.
Was die Journalisten jedoch an der neuesten Ausgabe, die das Jahr 1977 im Blick hat, faszinierte, war ein Satz in Dokument Nummer 242: Von allen Seiten, "sogar von Politikern werde von ihm verlangt, Geiselerschießungen an den inhaftierten Terroristen vorzunehmen". So äußerte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt während eines Telefonats mit dem französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing am 18. September 1977.
Was bislang nur als Gerücht verbreitet wurde, ist damit belegt: Der Krisenstab der Schmidt-Regierung, der unmittelbar nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF im September 1977 eingerichtet worden war, diskutierte damals tatsächlich die Erschießung der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen, die mit der Entführung Schleyers und der Lufthansa-Maschine "Landshut" freigepresst werden sollten.
Diese Stelle ist sicher eine der spektakulärsten in der umfangreichen Aktensammlung, die sowohl Aufzeichnungen von Telefonaten und Treffen Schmidts mit anderen Regierungschefs als auch Briefe und Aufzeichnungen deutscher Diplomaten enthält. Sie zeigen, wie sehr der Terrorismus im "deutschen Herbst" nicht nur die Innenpolitik prägte, sondern auch die Außenpolitik. Von trockenem Quellenstudium kann hier keine Rede sein. Die Unterlagen vermitteln intensiv die angespannte Situation, in der sich die deutsche Regierung damals befand und die Schmidt später als die schwerste Zeit seiner Kanzlerschaft bezeichnete.
Als ein palästinensisches Terrorkommando die "Landshut" am 13. Oktober entführte und am nächsten Tag nach längerem Herumirren im Luftraum über dem Persischen Golf die Landung in Dubai erzwungen hatte, griff Schmidt in die Ereignisse ein. In einem Telefonat mit Scheich Zayed Bin Sultan al-Nahayan, dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, bat er am 16. Oktober dringend darum, "umgehend eine Polizeiaktion zu starten, um das Leben der Passagiere zu retten", sobald die Terroristen Anstalten machen würden, die Geiseln zu töten. Der Scheich sicherte zu, alles zu unternehmen, um die Geiseln zu retten, appellierte aber gleichzeitig an Schmidt, den Forderungen der Terroristen nachzugeben: Durch die Freilassung der Häftlinge in Deutschland könne eher das Leben der Geiseln gerettet werden als auf andere Weise. Schmidt lehnte ab und bat "im Namen der Humanität" darum, dass man in Dubai den Start des Flugzeugs verhindern möge - und noch während der abschließenden Grußfloskeln durch sein Lagezentrum wurde darüber informiert, dass die Maschine "vor einer Minute" gestartet sei.
Das nächste Dokument ist ein Vermerk über ein Gespräch des Bundeskanzlers mit dem somalischen Botschafter am 17. Oktober, nachdem die "Landshut" in Mogadischu gelandet war. Erneut bat Schmidt, einen Start der Lufthansa-Maschine zu verhindern und kündigte an, "somalische Hilfe in dieser Frage von nationaler Bedeutung würde von deutscher Seite mit der Bereitschaft zu umfassender Hilfe honoriert". Es sind Dokumente wie diese, die ein eindrucksvolles Bild von der politischen Situation in diesen Tagen vermitteln und klarmachen, wie internationale Politik funktioniert. Sie zeigen auch, dass der Begriff des internationalen Terrorismus nicht erst nach den Anschlägen des 11. Septembers entstanden ist: Immer wieder finden sich in den Akten des Jahres 1977 Dokumente, in denen sich Schmidt und seine Diplomaten besorgt über die internationale Vernetzung der Terroristen zeigen und Erkenntnisse über deren Finanzströme austauschen.
Die Aktensammlung beleuchtet zudem Diskussionen hinter den Kulissen, über die bislang kaum etwas bekannt war. So fragte nach vertraulichen Aufzeichnungen eines deutschen Legationsrates die spanische Regierung im Mai 1977 bei der Bundesregierung an, ob sie zeitweilig einige baskische Terroristen aufnehmen könne. Die anstehenden spanischen Wahlen wären "ernsthaft gefährdet", solange sich noch ein Baske in einem spanischen Gefängnis befinde; die "Amnestierung dieser Personen, denen allen politische Morde und Attentate vorgeworfen werden" sei allerdings für die spanische Regierung "unmöglich wegen Rückwirkungen in den übrigen Landesteilen". Die belgische Regierung, an die Spanien sich mit der gleichen Bitte gewandt hatte, sagte zu - die Bundesregierung aber lehnte ab. Die öffentliche Meinung, so hieß es in der Antwort, sei "als Folge der Anschläge deutscher Anarchisten, zuletzt der Ermordung des Generalbundesanwalts, in so hohem Maße in allen Aspekten des internationalen Terrorismus sensibilisiert, dass sie die Aufnahme der Basken in das Bundesgebiet als ein neues, schweres Element der Unsicherheit und Gefahr bewerten würde".
An Stellen wie diesen liest sich die Aktensammlung spannend wie ein Politthriller. Ein größeres Lob kann man einer wissenschaftlichen Studie wohl kaum aussprechen.
Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1977
Oldenbourg Verlag,
München 2008;
1.968 S., 138 ¤