Hintergrund
Was leistet die Versicherung? Und wie organisiert man gute Pflege?
Fünf Mal täglich hat Wilhelm H. seine Mutter besucht. Morgens, mittags, nachmittags, abends und mitten in der Nacht verbrachte der heute 55-Jährige jeweils kurze Zeit bei der schwer kranken Frau. Jede freie Minute kümmerte sich der Angestellte eines mittelgroßen Pharmaunternehmens um seine Mutter. Jahrelang. Darunter litt nicht nur er, sondern auch seine Frau, seine Ehe. H. fühlte sich allein gelassen mit all seinen Problemen. "In dieser Zeit habe ich fast täglich geheult", erinnert er sich. Studien zufolge werden derzeit bundesweit rund 1,5 Millionen Menschen zu Hause gepflegt, zumeist von ihren eigenen Angehörigen.
Für Menschen, die pflegebedürftig werden, und deren Angehörige stehen zunächst ganz praktische Fragen im Vordergrund. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um Leistungen aus der Pflegeversicherung zu erhalten? Wer entscheidet über die Pflegebedürftigkeit? Wo ist sachkundiger Rat erhältlich?
Grundsätzlich wird zwischen der sozialen Pflegeversicherung (SPV) und der privaten Pflegeversicherung (PPV) unterschieden. Wo jemand versichert ist, hängt davon ab, ob er gesetzlich oder privat krankenversichert ist. Die Pflegeversicherung ist nur eine "Teilkasko-Versicherung". Einen Teil der Pflegeleistungen müssen die Menschen aus der eigenen Kasse bezahlen. Da die Pflegesätze seit der Einführung der jüngsten Sozialversicherungssäule im Jahr 1995 bis zum 1. Juli dieses Jahres nicht angehoben wurden, mussten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen im Lauf der Jahre immer mehr zuzahlen. Nicht nur, aber auch deshalb wuchs die Zahl der Pflegebedürftigen, die auf das Sozialamt angewiesen sind, von 313.000 im Jahr 2002 binnen vier Jahren auf 370.000 an. Nun aber steigen die Sätze in der ambulanten Pflege in allen Pflegestufen für Sachleistungen und das Pflegegeld bis 2012, in der stationären Pflege werden die Beträge in der dritten Stufe erhöht (vgl. Text unten rechts).
Anspruch auf Leistungen aus der SPV hat jeder, der mindestens zwei Jahre pflegeversichert ist. Tritt ein Pflegefall in der Familie ein, haben Arbeitnehmer neuerdings Anspruch auf zehn Tage unbezahlten Urlaub. In dieser Zeit können sie Anträge stellen, unterschiedliche Pflegeangebote sichten und Beratungsstellen aufsuchen, die etwa von Caritas, Diakonie, Rotem Kreuz, Arbeiterwohlfahrt und den Kommunen betrieben werden. Mit dem Aufbau von Pflegestützpunkten soll diese Beratung nach dem Willen der Bundesregierung künftig besser organisiert werden. Vom 1. Januar kommenden Jahres an hat jeder Pflegebedürftige einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Hilfe und Unterstützung durch einen Pflegeberater.
Wichtigster Ansprechpartner in Sachen Pflege sind Krankenkassen beziehungsweise Privatversicherer, bei denen Leistungen aus der Pflegeversicherung beantragt werden. Ob und in welcher Stufe Pflegebedarf besteht, entscheidet der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK), dessen Mitarbeiter die Antragsteller zu Hause aufsuchen.
Grundsätzlich gilt dabei: Eine Erkrankung oder Behinderung spielt für sich gesehen keine Rolle, es zählt allein Art und Dauer des Pflegebedarfs. Für die Pflegestufe I muss der MDK einen täglichen Pflegebedarf von mindestens 90 Minuten feststellen, wobei hiervon mindestens 45 Minuten auf die so genannte Grundpflege für Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Mobilität entfallen müssen. In der Stufe II liegt der Grenzwert bei täglich mindestens drei Stunden, wovon zwei Stunden für die Grundpflege aufzuwenden sind. Pflegebedürftige in Stufe III sind täglich fünf Stunden oder länger auf Hilfe angewiesen, wobei die Grundpflegleistungen mindestens vier Stunden beanspruchen müssen. Außerdem muss ein Betreuungsbedarf bei Nacht vorliegen.
Das hört sich ziemlich technokratisch an, und leider ist es das auch. Für jede einzelne Handreichung gibt es minutengenaue Zeitkontingente, die für den Gesamtpflegebedarf zusammengerechnet werden. Spätestens fünf Wochen, nachdem der Antrag auf Pflegeleistung eingereicht wurde, muss die Kasse ihren Bescheid vorlegen. Sind Pflegebedürftige oder Angehörige mit dem Ergebnis nicht einverstanden, können sie innerhalb von vier Wochen schriftlich Widerspruch einlegen. Anschließend entscheidet ein Ausschuss der Kassen darüber. Gegebenenfalls kann gegen dessen Bescheid innerhalb von 28 Tagen kostenlos Klage beim Sozialgericht eingereicht werden.
Die allermeisten Pflegebedürftigen wünschen sich, zu Hause zu bleiben und damit den Umzug in ein Pflegeheim verhindern zu können. Dieser Wunsch deckt sich mit dem Interesse des Gesetzgebers, die häusliche ambulante Pflege gegenüber der stationären Heimpflege zu stärken. Neben dem sozialen spielt dabei der finanzielle Aspekt eine wesentliche Rolle: Die SPV wandte 2007 für 1,358 Millionen ambulant versorgte Hilfsbedürftige 8,4 Milliarden Euro auf, für 671.000 Pflegebedürftige in Heimen aber 9,1 Milliarden Euro. Die gleiche Tendenz weisen die Daten der PPV auf. Insofern war die besonders kräftige Anhebung der Pflegesätze für die ambulante Versorgung bei gleichzeitigem Einfrieren der stationären Pflege in den Stufen I und II kein Zufall.
Für die zu Hause versorgten Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen wurden mit der jüngsten Pflegereform zusätzliche Verbesserungen eingeführt. Für pflegende Angehörige, die aufgrund eines Erholungsur- laubs oder krankheitshalber ausfallen, steigen die Sätze der so genannten Verhinderungspflege schrittweise an. Bisher zahlten die Pflegekassen 1.432 Euro für eine professionelle Ersatzpflegekraft für höchstens vier Wochen im Jahr. Seit 1. Juli sind es 1.470 Euro, vom 1. Januar 2010 an gibt es 1.510 Euro, zwei Jahre später 1.550 Euro. Ein Anspruch auf einen Erholungsurlaub haben die pflegenden Angehörigen nun schon sechs - und nicht wie bisher erst zwölf - Monate nach Beginn der Pflegetätigkeit.
Neu ist auch die Pflegezeit: Angehörige, die in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten arbeiten, haben einen Anspruch darauf, sechs Monate unbezahlt für die Pflege eines nahen Verwandten (Ehegatten, Lebenspartner, Kinder, Enkel, Eltern, Großeltern, Geschwister, Schwiegereltern und Schwiegerkinder sowie Adoptiv- und Pflegekinder) frei gestellt zu werden. Voraussetzung ist eine vom MDK attestierte Pflegebedürftigkeit der Stufe I. Bei einem Pflegeaufwand von wöchentlich mindestens 14 Stunden zahlen die Pflegekassen anteilig renten- und Arbeitslosenversicherung sowie in Härtefällen auf Antrag auch die Krankenversicherungsbeiträge.
Neue Möglichkeiten bieten sich Pflegebedürftigen, die auf professionelle ambulante Pflege angewiesen sind. Sie können Leistungen "poolen", also aus einem gemeinsamen Topf finanzieren. Denkbar ist etwa, dass sich mehrere Hilfsbedürftige in einer Hausgemeinschaft zusammen eine Pflegekraft teilen oder bestimmte Dienstleistungen - etwa Vorlesen - gemeinsam und damit günstiger "einkaufen".
Ist eine häusliche Betreuung tagsüber oder nachts ambulant nicht im erforderlichen Maße sichergestellt, trägt die Pflegekasse die Kosten für die Tages- beziehungsweise Nachtpflege in einer teilstationären Einrichtung. Wenn auch diese Kombination nicht mehr möglich ist, haben Pflegebedürftige Anspruch auf vollstationäre Pflege. Unterkunft und Verpflegung muss der Heimbewohner in der stationären Betreuung selbst bezahlen.
Die Suche nach einem geeigneten Heim soll künftig durch die Veröffentlichung der Prüfergebnisse des MDK erleichtert werden. Bis 31. August sollen die Spitzenverbände der Pflegekassen, Träger, Kommunen sowie der überörtlichen Sozialhilfe einheitliche Qualitätsstandards für die Kontrolle von Heimen entwickeln. Bis 2010 sollen sämtliche Heime vom MDK ein Mal anhand dieser Kriterien überprüft werden, anschließend jährlich und unangemeldet.
Doch manchmal ist es nicht der körperliche Verfall, der Menschen pflegebedürftig macht, wie das Beispiel von Thea K. zeigt. Als sie eines Morgens in die Küche kam, begrüßte ihr Mann Walter sie hoch erfreut: "Schön, dass Sie da sind. Meine Frau hat mich heute verlassen." Dass eben diese vor ihm stand, hatte er nach mehr 50 Ehejahren vergessen. Diagnose der Ärzte: Alzheimer. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz trägt nun den Krankheiten mit "eingeschränkter Alltagskompetenz" deutlicher als bisher Rechnung. Für häusliche Betreuungsleistungen wurden bislang lediglich 460 Euro pro Jahr ersetzt. Künftig sind es je nach Grad der Hilfsbedürftigkeit 1.200 bis 2.400 Euro jährlich.
Der Autor ist Redakteur im Bundesbüro des Kölner "Stadt-Anzeiger".