DEMENZ
1,1 Millionen Menschen sind in Deutschland erkrankt. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl mindestens verdoppeln. Jetzt wird in die Forschung investiert
"Sie tat mir leid und gleichzeitig habe ich mich geschämt", sagt Hans Nachtigall* heute. Alle paar Wochen rief ihn die Polizei an. Der Schulleiter eines Gymnasiums wusste meist schon warum. "Wir haben Ihre Mutter im Nachthemd auf der Straße aufgegriffen", so oder ähnlich hieß es dann. Irgendwann hat Nachtigall seine Mutter schweren Herzens in ein Heim gebracht.
Jahre zuvor hatte es angefangen. Elisabeth Nachtigall vergaß Namen, dann wusste sie nicht mehr, warum sie in den Supermarkt gegangen war. "Ein Leben lang hat sie peinlichst auf einen sauberen Haushalt geachtet, doch auf einmal machte sie nicht einmal ihr Bett", sagt Nachtigall. Seine Mutter hatte Glück im Unglück: Alzheimer wurde bei ihr bereits im Frühstadium diagnostiziert.
Bei Alzheimer ist das - anders als bei vielen anderen Demenzerkrankungen - vergleichsweise früh möglich. Analysen im Hirnwasser sowie Untersuchungen des Gehirns ergeben meist ein eindeutiges Krankheitsbild. Doch Alzheimer macht nur etwa die Hälfte aller Demenzerkrankungen aus, die insbesondere im höheren Alter auftreten. 200.000 Menschen erhalten in Deutschland jedes Jahr die Diagnose Demenz (lateinisch dementia, "ohne Geist"). Dabei sind das längst nicht alle Patienten. "Bei 30 Prozent aller Menschen, die eine Demenzerkrankung haben, wird dies in Deutschland nie diagnostiziert", sagt Professorin Sabine Bartholomeyczik von der Universität Witten-Herdecke. Ein Forschungsprojekt der Universität hat ergeben, dass die Kenntnisse sowohl in der Bevölkerung als auch bei Hausärzten und Pflegepersonal in keiner Weise ausreichend sind.
In den nächsten Jahren wollen die Wissenschaftler genau hier ansetzen. Witten-Herdecke ist eins der sechs Partnerinstitute, die neben dem großen Kerninstitut in Bonn, dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), in Zukunft Demenz erforschen sollen. 60 Millionen Euro wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) dafür jährlich ausgeben, weitere 6 Millionen Euro kommen von den Bundesländern. Der Löwenanteil von rund 40 Millionen Euro geht ans DZNE, nach Witten-Herdecke werden jedes Jahr 2 Millionen Euro fließen.
Eine große finanzielle Anstrengung, die von allen Seiten als mehr als notwendig angesehen wird. "Wir haben hier eine völlig unterfinanzierte Forschung", sagt Professor Johannes Dichgans von der Universität Tübingen. Er leitete die Arbeitsgruppe, die das Konzept für das neue Zentrum erstellt hat. "Derzeit haben wir etwa 1,1 Millionen Menschen in Deutschland, die von einer Demenzerkrankung betroffen sind. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl mindestens verdoppeln, wenn nicht sogar vervierfachen". Für die Forscher ist das Zentrum daher ein überfälliger Schritt. "Der demografische Wandel führt zu enormen Spannungen zwischen den zahlenden Jungen und den zu versorgenden Alten", meint Johannes Dichgans. Jedes Jahr muss das Gesundheitssystem 20 Milliarden Euro allein für Alzheimerkranke leisten. Bei einer immer älter werdenden Gesellschaft werden diese Kosten weiter ansteigen. "Diverse Regierungen haben die Augen vor dieser demografischen Entwicklung verschlossen", findet auch Sabine Bartholomeyczik.
Mit dem DZNE soll diesem Mangel begegnet werden. Mit seinem interdiszplinären Konzept ist das DZNE weltweit die größte Einrichtung dieser Art. Allerdings bezieht sich das nur auf die Erforschung der Demenzerkrankungen und ihrer Folgen. Die Versorgung der Patienten effizienter zu gestalten, sei nicht die Aufgabe des BMBF, so Peter Lange, Abteilungsleiter Lebenswissenschaften: "Die Forschung kann hier nur Vorschläge machen, der Rest ist Aufgabe des Gesundheitssystems." Ein erster Ansatz ist die bessere Unterstützung der Pflege demenziell Erkrankter mit der am 1. Juli in Kraft getretenen Pflegereform. Im Herbst soll nun ferner eine Expertenkommission eine Definition für den Begriff "pflegebedürtig" vorlegen, der auch Demenzerkrankungen erfasst. Das Problem liegt nach Bartholomeyczik ohnehin nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft: "Es schreien alle auf, wenn die Beiträge für die Pflegeversicherung steigen, doch das wird in Zukunft gar nicht anders machbar sein. Dessen muss sich auch die Gesellschaft bewusst sein."
Dazu kommt, dass derzeit noch rund drei Viertel aller Demenzkranken in der Familie versorgt werden, vor allem von Frauen. Diese Zahl aber sinkt. "Die Aufgabe, alte und kranke Menschen zu Hause zu versorgen, ist so schwierig, dass es den Angehörigen irgendwann nicht mehr zuzumuten ist", meint Professor Dichgans. In immer mehr Familien sind außerdem beide Ehepartner berufstätig und können daher die Pflege nicht übernehmen. So war es auch bei Hans Nachtigall: "Zunächst haben wir sie von einem Sozialdienst zu Hause versorgen lassen. Doch irgendwann kommt der Punkt, wo das nicht mehr reicht. Ich hatte schon alle elektrischen Geräte wie Wasserkocher, Toaster etc. weggeschlossen, aber die Angst war immer da, dass sie sich oder auch andere gefährden könnte."
Zum Zeitpunkt der Diagnose war Elisabeth Nachtigall 79 Jahre alte, fünf Jahre später kam sie ins Heim, wo sie zwei Jahr später starb. Wie so viele andere Angehörige auch, wusste Hans Nachtigall zu wenig über die Krankheit. "Alzheimer, das sagt man ja schnell mal, wenn man einen Termin vergisst. Was das aber bedeutet, dement, also ,ohne Geist', zu sein, das war mir eigentlich bis zum Schluss nicht klar." Und dann fügt er hinzu: "Ich hoffe, dass mir und auch meinen Kindern das erspart bleibt."
*Name von der Redaktion geändert
Die Autorin ist Wissenschaftsjournalistin und arbeitet derzeit in London.