Als Joschka Fischer im Mai 2000 mit seiner Rede in der Berliner Humboldt-Universität die europäische Verfassungsdebatte eröffnete, stellte er den Begriff der "Finalität" europäischer Integration in den Mittelpunkt: Nach fünfzig Jahren der Integration in kleinen Schritten, so Fischer, sei es nun an der Zeit, sich über den Endzustand des Integrationswerks Gedanken zu machen. 1 Acht Jahre später, nach dem spektakulären Scheitern des Verfassungsprojekts und der erneuten Ablehnung des Nachfolgevertrags von Lissabon im irischen Referendum am 12. Juni 2008, sind groß angelegte Konzepte über den Zielzustand der EU aus der Mode gekommen. In der politischen und wissenschaftlichen Europadiskussion hat ein neuer Pragmatismus Einzug gehalten.
Zumindest vorerst muss die EU auf Grundlage der umständlichen Regeln des Vertrags von Nizza weiter funktionieren. Selbst wenn der Lissabonvertrag noch in Kraft treten sollte, dürfte er auf absehbare Zeit die letzte grundlegende Reform des europäischen Vertragswerks gewesen sein. Weitergehende Visionen sind nicht länger Gegenstand öffentlicher Debatten.
Die Ratifizierungskrise des Lissabonvertrags ist vor diesem Hintergrund ein Anlass, die Frage nach dem Demokratiedefizit der EU erneut aufzuwerfen: Verfestigt sich durch die Reformunfähigkeit der EU ein Gemeinwesen, in dem technokratische Regulierung und intergouvernementales Verhandeln die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger so weit zurückdrängen, dass nicht mehr als ein bedeutungsloses Frustventil in Gestalt der Europawahlen übrig bleibt? Oder ist die Union demokratischer als ihr Ruf? Welche Demokratisierungsschritte brächte der Lissabonvertrag, welche wären darüber hinaus noch denkbar? Mein Beitrag wendet sich diesen Fragen in drei Schritten zu: Zunächst gibt er einen Überblick über die bestehenden Möglichkeiten demokratischer Einflussnahme in der EU; dann bewertet er, inwiefern diese defizitär zu nennen sind; schließlich diskutiert er Potenziale für eine weitere Demokratisierung europäischer Politik.
Zu Beginn einer Analyse über Demokratie in der EU sollte man sich klar machen, dass die Union keineswegs das undemokratische Monstrum ist, als das sie in bestimmten euroskeptischen Diskursen dargestellt wird. Vielmehr existieren eine ganze Reihe von Verfahren, über die die Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf EU-Entscheidungen nehmen können. Drei Kanäle demokratischer Einflussnahme sind zu unterscheiden:
(a) Der offensichtlichste Kanal verläuft über das direkt gewählte Europäische Parlament, das ausdrücklich konzipiert ist zur Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger auf europäischer Ebene. Die Kompetenzen des Parlaments bei der Verabschiedung europäischer Rechtsakte sind in den vergangenen Vertragsreformen stetig ausgeweitet worden, und der Lissabonvertrag sieht eine weitere Ausweitung vor. In den meisten Politikbereichen ist das Parlament mittlerweile im Mitentscheidungsverfahren am Gesetzgebungsprozess beteiligt, was bedeutet, dass gegen seinen Willen kein Rechtsakt zustande kommen kann.
Wo unterscheiden sich die Kompetenzen des Europäischen Parlaments überhaupt noch von denen nationaler Parlamente? Erstens kann es Rechtsakte nicht formell initiieren; dies ist das Monopol der Europäischen Kommission. Zweitens gibt es nach wie vor Bereiche, in denen es nicht die volle Gesetzgebungskompetenz besitzt, sondern vom Ministerrat überstimmt werden kann. Auch bei Inkrafttreten des Lissabonvertrags gälte dies etwa für die Steuerharmonisierung, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sowie bestimmte Bereiche der Innen- und Justizpolitik. Drittens hat das Parlament nur eingeschränkte Befugnisse hinsichtlich der Wahl und Kontrolle der Europäischen Kommission: Zwar muss es die Kommission mehrheitlich bestätigen, es kann aber keinen direkten Einfluss auf die Nominierung ihrer Mitglieder nehmen und eine einmal ins Amt gewählte Kommission nur mit Zweidrittelmehrheit abwählen.
Diese Kompetenzmängel des Europäischen Parlaments sind aber nicht das Hauptproblem dieses Kanals demokratischer Einflussnahme. Vielmehr ist es vor allem der Charakter der Europawahlen, der einen Schatten auf die demokratische Qualität des Parlaments wirft. In Europawahlen treten nationale Parteien an, die Wahlkämpfe sind dominiert durch nationale Themen, und die Wählerinnen und Wähler nutzen diese Wahlen vor allem zur Abrechnung mit nationalen Regierungen (wenn sie sich überhaupt beteiligen).
Karlheinz Reif und Hermann Schmitt haben die Europawahlen daher schon zu Beginn der 1980er Jahre als "Wahlen zweiter Ordnung" beschrieben, und diese Analyse behält nach wie vor ihre Gültigkeit. 2 Das bedeutet, dass die Europaparlamentarierinnen und -parlamentarier ganz überwiegend aufgrund von Erwägungen gewählt werden, die wenig mit ihrer späteren Rolle als Mitgesetzgeber auf europäischer Ebene zu tun haben. Es ist fraglich, ob das Europäische Parlament unter diesen Bedingungen wirklich als demokratischer Repräsentant der Bürgerinnen und Bürger funktionieren kann.
(b) Der zweite Kanal demokratischer Einflussnahme in der EU verläuft über nationale Wahlen, nationale Parlamente und nationale Regierungen hin zum EU-Ministerrat, der als Entscheidungszentrum noch machtvoller ist als das Parlament. Dieser Mechanismus mitgliedstaatlicher Repräsentation ermöglicht die demokratische Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger über politische Prozesse in den Mitgliedstaaten, jenseits des Europäischen Parlaments.
Auch hier ergeben sich Probleme. Erstens spielen EU-bezogene Themen auch bei nationalen Wahlen keine wichtige Rolle, und sie werden in den Medien nicht mit größerer Breitenwirkung diskutiert. Zweitens haben mitgliedstaatliche Regierungen selbst bei Themen, die in der Öffentlichkeit Interesse erregen, einen großen Handlungsspielraum im Ministerrat. Denn nationale Parlamente, die Kerninstitutionen mitgliedstaatlicher Demokratie, haben oft Probleme, Entscheidungsverfahren auf EU-Ebene nachzuvollziehen und schrecken zudem davor zurück, die eigene Regierung durch allzu detaillierte Vorgaben im Prozess der Aushandlung europäischer Rechtsnormen einzuschränken. 3 Wenn das Verhandlungsergebnis den Wünschen wichtiger Wählergruppen nicht entspricht, kann die Schuld immer noch auf andere europäische Regierungen geschoben werden; schließlich werden Entscheidungen im Ministerrat meist mit qualifizierter Mehrheit getroffen. Auch der Kanal mitgliedstaatlicher Repräsentation stellt also nicht sicher, dass die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich Eingang in europäische Entscheidungen finden.
(c) Neben dem Europäischen Parlament und nationalen politischen Prozessen verläuft ein dritter Kanal demokratischer Einflussnahme über die europäische Zivilgesellschaft, die besonders von der Europäischen Kommission gezielt in EU-Entscheidungsprozesse eingebunden wird. Viele Autorinnen und Autoren erkennen ein erhebliches demokratisches Potenzial in solchen Verfahren der policy-spezifischen, funktionellen Repräsentation, die die von einer Entscheidung betroffenen Interessengruppen frühzeitig beteiligen. 4
Auch bei diesem Einflusskanal ist zweifelhaft, ob er eine unverzerrte Verbindung zwischen den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger und EU-Entscheidungen sicherstellt. Erstens sind die von der Kommission konsultierten Interessenvertreter in aller Regel professionelle Lobbyistinnen und Lobbyisten, deren Positionen nicht unbedingt eine Abbildung gesellschaftlicher Interessen darstellen. Zweitens bleibt es letztlich der Kommission überlassen, wie sie auf die im Konsultationsprozess zum Ausdruck gekommenen Positionen tatsächlich reagiert.
Jeder der drei Kanäle europäischer Demokratie ist also mit spezifischen Problemen behaftet. Stellt ihr Zusammenspiel trotzdem ein angemessenes Maß an Demokratie sicher? Eine Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie man Demokratie definiert. In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion argumentieren vor allem Vertreterinnen und Vertreter zweier Stränge der Demokratietheorie gegen die These eines Demokratiedefizits der EU:
Erstens ist die sogenannte "realistische" Demokratietheorie zu nennen, die in der EU-bezogenen Diskussion vor allem von Giandomenico Majone und Andrew Moravcsik vertreten wird. 5 Für beide bedeutet Demokratie in erster Linie die Verhinderung von Machtmissbrauch. Gemessen an diesem Kriterium ist die EU demokratisch, denn die konsensorientierte Form der Entscheidungsfindung und die Vielzahl von Vetospielern stellen sicher, dass Macht zahlreichen Kontrollen und Beschränkungen unterliegt.
Zweitens kommen auch einige Vertreterinnen und Vertreter der deliberativen Demokratietheorie, etwa Charles Sabel und Klaus Eder, zu einem positiven Fazit über die demokratische Qualität der EU. 6 Dies mag überraschen, denn die deliberative Demokratietheorie, geprägt von Jürgen Habermas, gilt gemeinhin als besonders anspruchsvoll. Viele EU-bezogene Anwendungen interpretieren die Theorie jedoch in einer wenig anspruchsvollen Weise: Demokratie bedeutet für sie die Existenz von Verfahren, die sicherstellen, dass alle relevanten Argumente für oder gegen bestimmte Entscheidungen abgewogen werden können; während es zweitrangig ist, ob alle Bürgerinnen und Bürger selbst Zugang zu solchen Abwägungsprozessen haben. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die EU demokratisch, weil an ihren Entscheidungen eine Vielzahl von Akteuren beteiligt sind - die EU-Bürokratie, nationale Regierungen, nationale und europäische Parlamente, Interessengruppen usw. -, die sehr unterschiedliche Perspektiven einbringen.
Aus meiner Sicht beruhen diese Positionen jedoch auf einer verkürzten Konzeption von Demokratie. Denn Demokratie sollte mindestens zweierlei bedeuten: Erstens müssen alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, an Prozessen der kollektiven Selbstbestimmung als Gleiche zu partizipieren - und das bedeutet auch, nach dem Prinzip one person, one vote an Entscheidungen mitzuwirken. 7 Zweitens müssen die Bürgerinnen und Bürger politische Eliten für deren Verhalten rechenschaftspflichtig machen können (im Englischen spricht man von accountability), und das beinhaltet, dass man Entscheidungsträger gegebenenfalls durch Abwahl sanktionieren kann. 8
Die Grenzen der Demokratie in der EU werden deutlich, wenn man die drei Kanäle demokratischer Einflussnahme an diesen Kriterien misst. In den ersten beiden Kanälen - Europäisches Parlament und mitgliedstaatliche Politik - ist durch allgemeine und gleiche Wahlen auf europäischer und nationaler Ebene immerhin die gleiche Partizipation der Bürgerinnen und Bürger sichergestellt, auch wenn der substanzielle Einfluss dieser Partizipation auf die letztlich erzieltenPolitikergebnisse zweifelhaft sein mag.
Probleme ergeben sich jedoch insbesondere hinsichtlich der Gewährleistung von Rechenschaftspflicht. Bei Mitgliedern des Europäischen Parlamentes wird diese dadurch unterminiert, dass es in Europawahlen in aller Regel gar nicht um deren Beitrag zu europäischen Entscheidungen geht, sondern um nationale Politik. Bei mitgliedstaatlichen Regierungen ist die Rechenschaftspflicht für die imMinisterrat getroffenen Entscheidungen ebenfalls begrenzt, da sich intergouvernementale Verhandlungsprozesse wie geschildert einer Kontrolle durch nationale Parlamente und Öffentlichkeiten oft entziehen.
Beim dritten Kanal demokratischer Einflussnahme, der funktionellen Repräsentation von Interessen durch die europäische Zivilgesellschaft, ist sogar keines der beiden Demokratiekriterien erfüllt: Die Beteiligung von Interessenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission gewährleistet keine gleichgewichtige Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger. Rechenschaftspflicht ist ebenfalls nicht sichergestellt, denn die Kommission ist nicht verpflichtet, die Positionen der konsultierten Gruppen tatsächlich in Entscheidungsvorschläge einfließen zu lassen.
Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich daraus, dass die meisten Entscheidungen in der EU nicht von einer der drei Kerninstitutionen - Parlament, Ministerrat und Kommission - allein getroffen, sondern zwischen den drei Institutionen ausgehandelt werden. Das hat den Vorteil, dass für ein und dieselbe Entscheidung alle drei Kanäle demokratischer Einflussnahme relevant werden können. Der Nachteil ist jedoch, dass die wichtigsten Streitfragen europäischer Politik letztlich erst in Vermittlungsverfahren zwischen den drei Institutionen entschieden werden - hinter verschlossenen Türen und in Verfahren, die weder die direkte Partizipation der Bürgerinnen und Bürger noch die Herstellung von Rechenschaftspflicht ermöglichen. Mit anderen Worten: Wenn es wirklich ernst wird, halten politische Eliten in der EU das Heft fest in der Hand. All dies bedeutet nicht, dass sie ohne Kontrolle schalten und walten können: Parlament, Ministerrat und Kommission kontrollieren sich gegenseitig, und auch die Medien nehmen von der EU mehr Notiz als noch vor wenigen Jahren. Aber wie bereits gesagt: Die Kontrolle von Macht allein bedeutet noch keine Demokratie.
Diese Überlegungen führen zu der Frage, welche Möglichkeiten es gibt, um dem europäischen Demokratiedefizit abzuhelfen. Welche Veränderungen sieht der Lissabonvertrag in dieser Hinsicht vor? Welche weiteren Optionen wurden in diesem Vertrag nicht aufgegriffen? Erneut ist es sinnvoll, die drei Kanäle demokratischer Einflussnahme zu betrachten:
(a) Wie die bisherige Analyse gezeigt hat, kann die Rechenschaftspflicht europäischer Entscheidungsträger über das Europäische Parlament nur dann effektiver sichergestellt werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihr Partizipationsverhalten ändern. Denn letztlich hängt es von den Wählerinnen und Wählern ab, ob Europawahlen Wahlen zweiter Ordnung bleiben, oder ob Parteien gezwungen werden, Europawahlkämpfe über europäische Themen zu führen. Für ein besseres Funktionieren des Europäischen Parlamentes als demokratischer Vertretung der Bürgerinnen und Bürger kommt es also weniger auf institutionelle Reformen an als auf die Ausbildung europäischer Identitäten und eines europäischen politischen Interesses in der Bevölkerung. Wenn dies gelänge, wäre die volle Parlamentarisierung der EU möglich - das Europäische Parlament könnte auf Kosten der anderen Einflusskanäle wirklich zur zentralen Institution europäischer Demokratie werden.
Lässt sich auf eine solche Europäisierung von Identitäten und Verhaltsmustern der Bürgerinnen und Bürger gezielt Einfluss nehmen? Die gescheiterte Europäische Verfassung war ein Versuch, genau das zu tun: ein Projekt der Identitätsbildung. Der Name "Verfassung", die wertgeladene Sprache der Präambel, die Verfassungsartikel über die Ziele, Werte und Symbole der Union, der prominente Platz der Grundrechtecharta - all dies sollte die Konturen der EU als politisches Gemeinwesen deutlicher machen, mithin ihre "Finalität" zumindest grob skizzieren, und der Verfassung selbst eine Rolle als Bezugspunkt für ein stärkeres europäisches Bürgerbewusstsein sichern. 9
Das Scheitern der Verfassung zeigt die Grenzen einer solchen Identitätsbildungsstrategie auf: Ein großer Teil der europäischen Bevölkerung ist (noch) nicht bereit, eine mit den klassischen Insignien des Staates auftretende EU zu akzeptieren. Zudem gibt es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen nationalen Sichtweisen der europäischen Integration und daraus abgeleiteten Erwartungen an die EU. Diese Unterschiede machen es unmöglich, die Merkmale und philosophischen Grundlagen der Union in Verfassungsartikel zu gießen, ohne Widerstände in bestimmten Mitgliedstaaten oder Bevölkerungsgruppen hervorzurufen. Konstitutionelle Prinzipienerklärungen sind als Mechanismen der Identitätsbildung daher ungeeignet.
Einige Beobachterinnen und Beobachter halten jedoch eine alternative Strategie zurIdentitätsbildung für vielversprechend: Könnte man nicht, so fragen sie, die Kompetenzen des Europäischen Parlaments so radikal ausweiten, dass die Bürgerinnen und Bürger es sich nicht länger leisten können, die Europawahlen zu ignorieren - und somit zwangläufig europäische Identitäten ausbilden? 10 Dies wäre etwa dadurch möglich, dass man die Europäische Kommission wie in parlamentarischen Regierungssystemen aus der Mehrheit des Europäischen Parlaments bildet und von dessen fortwährender Unterstützung abhängig macht. Während die Kommission derzeit in parteipolitischer Hinsicht gemischt ist, weil nationale Regierungen jeweils Personen der eigenen politischen Richtung nominieren, würde die Kommission dann die Mehrheit des Europäischen Parlaments repräsentieren.
Auch mit Blick auf diese Strategie einer "Identitätsbildung durch Politisierung" ist Skepsis angebracht. Dies gilt erstens aus historischen Gründen: Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 sind dessen Kompetenzen stetig gewachsen, die Wahlbeteiligung bei Europawahlen ist aber in den meisten Mitgliedstaaten gesunken. Zweitens ist ein wichtiges theoretisches Argument zu berücksichtigen: Angesichts der Schwäche europäischer Identitäten ist es zweifelhaft, ob Mehrheitsentscheidungen in der EU - sei es in Sach- oder in Personalfragen - auch bei der Minderheit Akzeptanz finden würden. Denn erst das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zwischen Mehrheit und Minderheit stellt sicher, dass solche Entscheidungen von der überstimmten Minderheit nicht als Fremdbestimmung empfunden werden. 11 Vor diesem Hintergrund muss eine Abkehr vom Konsensprinzip nicht notwendigerweise identitätsbildend wirken, sondern könnte im Gegenteil die Basis des europäischen Einigungswerks zerstören.
(b) Bietet der zweite Kanal demokratischer Einflussnahme, der über die nationalen Regierungen und ihre Rolle im Ministerrat verläuft, bessere Bedingungen für eine Demokratisierung der EU? Eine Demokratisierungsstrategie, die hier ansetzt, hat insbesondere einen Vorteil: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Demokratie sind auf der nationalen Ebene besser als auf der europäischen, weil politische Partizipationsformen und Identitäten der Bürgerinnen und Bürger nach wie vor in erster Linie auf den Nationalstaat ausgerichtet sind.
Welche Möglichkeiten gäbe es aber, die demokratische Rechenschaftspflicht von Regierungen für ihr Verhalten im Ministerrat zu stärken? Zwei wichtige Schritte in diese Richtung sind im Lissabonvertrag enthalten: Erstens soll die Transparenz von Verfahren im Ministerrat dadurch erhöht werden, dass der Rat grundsätzlich öffentlich tagt, wenn er in gesetzgeberischer Funktion tätig ist. Zweitens sollen die Kontrollmöglichkeiten nationaler Parlamente ausgeweitet werden, indem ihnen ein besserer Zugang zu Gesetzgebungsdokumenten und die Möglichkeit eines Einspruch gegen geplante europäische Rechtsakte gewährt werden.
Darüber hinausgehend wären weitere Reformen denkbar, die aber eher auf mitgliedstaatlicher denn auf europäischer Ebene ansetzen müssten. Insbesondere wäre zu überlegen, wie die Kontrolle nationaler Parlamente über das Verhalten ihrer Regierungen im Ministerrat verbessert werden kann - die Möglichkeiten reichen von der Erteilung expliziter Verhandlungsmandate bis zur Beteiligung von Abgeordneten in den nationalen Delegationen. 12 Doch auch hier stößt die Demokratisierung an Grenzen: Wie schon geschildert, brauchen nationale Regierungen, um effektiv verhandeln zu können, einen gewissen Spielraum, der durch Mandatierung nicht allzu sehr eingeengt werden darf. Die Erteilung von realistischen Verhandlungsmandaten wird ferner dadurch erschwert, dass der Ministerrat nach Abschluss der eigenen Entscheidungsfindung zunehmend gezwungen ist, Einvernehmen mit dem Europäischen Parlament herzustellen. Nach dem Abschluss aller Verhandlungen bleibt den nationalen Parlamenten aber nur die extreme -und in der Praxis kaum realistische - Möglichkeit, die eigene Regierung wegen ihrer Verhandlungsführung zu stürzen.
Zudem ist daran zu erinnern, dass alle Reformen zur Erhöhung der Rechenschaftspflicht jeweils nur hinsichtlich der "eigenen" nationalen Regierung greifen können. Wenn im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird, laufen sie ins Leere: Es gibt keine Möglichkeit, die Regierungen anderer Mitgliedstaaten zu sanktionieren, wenn diese die eigene Regierung überstimmen. Die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen ist daher aus demokratietheoretischer Sicht nicht zwingend als Fortschritt anzusehen.
(c) Wie steht es schließlich mit dem dritten Kanal demokratischer Einflussnahme, der europäischen Zivilgesellschaft? Die bestehenden Verfahren zivilgesellschaftlicher Beteiligung sind nur sehr beschränkt geeignet, dem europäischen Demokratiedefizit abzuhelfen. Zwar lässt sich ihre Transparenz und Formalität erhöhen, und die EU-Kommission hat sich in den vergangenen Jahren ernstlich um beides bemüht, indem etwa Konsultationsverfahren nun öffentlich ausgeschrieben werden und Listen von in Brüssel tätigen Vereinigungen im Internet abrufbar sind. Aber die gleiche Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger und eine mit Sanktionsmöglichkeiten versehene Rechenschaftspflicht lassen sich auf diesem Wege nicht herstellen.
Vielversprechender erscheint eine andere Form der direkten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, nämlich europaweite Referenden. Dabei denke ich ganz ausdrücklich nicht an Verfassungsreferenden über die "Finalität" der europäischen Integration, denn diese führen in erster Linie dazu, Konflikte zwischen widersprüchlichen Zielvorstellungen weiter zu verschärfen. Eher aussichtsreich sind dagegen direktdemokratische Mechanismen zur Entscheidung von Sachfragen europäischer Politik.
Der Lissabonvertrag geht einen kleinen Schritt in diese Richtung mit der Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens, das aber wenig mehr ist als eine Möglichkeit zur Äußerung eines Gesetzgebungsvorschlags, über den dann im üblichen Verfahren befunden wird. Das Bürgerbegehren ließe sich ausweiten zu einem vollwertigen Bürgergesetzgebungsverfahren. Noch interessanter ist die Idee von Heidrun Abromeit, nach dem Vorbild der Schweiz ein direktdemokratisches Veto gegen EU-Entscheidungen möglich zu machen. 13 Die genaue Ausgestaltung eines solchen Bürgervetos, insbesondere die Frage der anzuwendenden Quoren, ist natürlich alles andere als unkompliziert. Die Grundlogik aber ist überzeugend: Angesichts der Schwierigkeit, Entscheidungsträger auf europäischer Ebene in demokratischen Verfahren für ihre Entscheidungen rechenschaftspflichtig zu machen, sollte es den Bürgerinnen und Bürgern zumindest möglich sein, bestimmte Entscheidungen politischer Eliten zu verhindern oder rückgängig zu machen.
Obwohl die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon Fortschritte auf dem Weg zu einer demokratischen Union bedeuten würde, bliebe die demokratische Qualität der EU, bemessen an den Kriterien der Partizipation und der Rechenschaftspflicht, auch nach seinem Inkrafttreten defizitär: Politik auf europäischer Ebene entzieht sich der vollen Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger. Dieses Fazit ist umso ernüchternder, als es kaum erfolgversprechende Optionen für eine Demokratisierung der EU gibt. Hinsichtlich der direkten Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger über das Europäische Parlament sind institutionelle Reformen kontraproduktiv, und es bleibt auf die Ausbildung eines veränderten Partizipationsverhaltens in der Bevölkerung zu hoffen. Hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Repräsentation über den Ministerrat ließen sich auf nationaler Ebene parlamentarische Kontrollmöglichkeiten verbessern. Hinsichtlich der Beteiligung der europäischen Zivilgesellschaft ist die Eröffnung zusätzlicher Partizipationsmöglichkeiten über europäische Sachreferenden denkbar. Die "demokratische Finalität" der EU mag somit noch nicht erreicht sein, doch in die noch möglichen Reformen sollten keine übertriebenen Erwartungen gesetzt werden: Die Komplexität von EU-Entscheidungsverfahren, die nötig ist, um der Diversität der europäischen Bevölkerung gerecht zu werden, verschließt sich einfachen Patentlösungen.
1 Joschka Fischer,
Vom Staatenbund zur Föderation: Gedanken über die
Finalität der europäischen Union, Rede am 12. Mai 2000 in
der Berliner Humboldt-Universität, in: Wilfried Loth (Hrsg.),
Entwürfe einer europäischen Verfassung: Eine historische
Bilanz, Bonn 2002.
2 Vgl. Karlheinz Reif/Hermann Schmitt,
Nine Second Order National Elections: A Conceptual Framework for
the Analysis of European Electoral Results, in: European Journal of
Political Research, 8 (1980) 1, S. 3 - 44.
3 Vgl. Katrin Auel/Arthur Benz,
Expanding, National Parliamentary Control: Does it Enhance European
Democracy?, in: Beate Kohler-Koch/Berthold Rittberger (Hrsg.),
Debating the Democratic Legitimacy of the European Union, Lanham
2007; John O'Brennan/Tapio Raunio (Hrsg.), National Parliaments
within the Enlarged European Union: From ,Victims` of Integration
to Competitive Actors?, London 2007.
4 Vgl. Jürgen Grote/Bernard Gbikpi
(eds.), Participatory Governance: Political and Societal
Implications, Opladen 2002; Justin Greenwood, Interest
Representation in the European Union, Basingstoke 2007(2).
5 Vgl. Giandomenico Majone, Europe's
'Democratic Deficit': A Question of Standards, in: European Law
Journal, 4 (1998) 1, S. 5 - 28; Andrew Moravcsik, In Defence of the
'Democratic Deficit': Reassessing Legitimacy in the European Union,
in: Journal of Common Market Studies , 40 (2002) 4, S. 603 -
624.
6 Vgl. Oliver Gerstenberg/Charles Sabel,
Directly-Deliberative Polyarchy: An Institutional Ideal for Europe?
in: Christian Joerges/Renaud Dehousse (eds.), Good Governance in
Europe's Integrated Market, Oxford 2002, S. 289 - 341;
Hans-Jörg Trenz/Klaus Eder, The Democratizing Dynamics of a
European Public Sphere: Towards a Theory of Democratic
Functionalism, in: European Journal of Social Theory 7 (2004) 1, S.
5 - 25.
7 Vgl. Robert Dahl, Democracy and its
Critics, New Haven 1989, S. 107 - 131.
8 Vgl. Mark Bovens, New Forms of
Accountability and EU Governance, in: Comparative European
Politics, 5 (2007) 1, S. 104 - 120.
9 Vgl. Achim Hurrelmann, Verfassung und
Integration in Europa: Wege zu einer supranationalen Demokratie,
Frankfurt/M.-New York 2005.
10 Vgl. Thomas Meyer, Die
Identität Europas: Der EU eine Seele?, Frankfurt/M. 2004, S.
38 - 63.
11 Vgl. Fritz W. Scharpf, Demokratische
Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: Michael Th.
Greven (Hrsg.), Demokratie - eine Kultur des Westens?, Opladen
1998.
12 Vgl. Andreas Maurer, Optionen und
Grenzen der Einbindung der nationalen Parlamente in die
künftige EU-Verfassungsstruktur, SWP-Studie S 29, Berlin
2002.
13 Vgl. Heidrun Abromeit, Ein Vorschlag
zur Demokratisierung des europäischen Entscheidungssystems,
in: Politische Vierteljahresschrift, 39 (1998) 1, S. 80 -
90.