PRAGER FRÜHLING
Das Interesse an der Niederschlagung des Aufstandes in der Tschechoslowakei vor 40 Jahren ist bis heute groß - aber überwiegend bei den Deutschen
Es ist ein politisches Zeichen, das der tschechische Präsident Václav Klaus setzen will: Genau 40 Jahre, nachdem die Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling gewaltsam niedergeschlagen haben, gibt er einen Empfang für die tschechoslowakischen Soldaten, die sich damals den Besatzern entgegengestellt haben. Es ist das erste Mal, dass der schicksalhafte 21. August auf der Prager Burg in dieser Form begangen wird. "Die ganzen vergangenen Jahre hat uns niemand wahrgenommen", klagte denn auch einer der früheren Soldaten vor tschechischen Journalisten.
Dieser Fall ist symptomatisch für den Umgang der Tschechen mit den Geschehnissen von 1968. Unter den postsozialistischen Politikern wie unter Historikern gab es über Jahre hinweg einen Streit um die Deutungshoheit über die Ereignisse - nach der politischen Wende etwa haben konservative Politiker den Prager Frühling als bloßen Richtungsstreit innerhalb der kommunistischen Staatsführung abgetan. Das sozialistische System selbst habe schließlich auch im Jahr 1968 nicht zur Debatte gestanden, hieß es damals.
"In Tschechien lesen Wissenschafter und Öffentlichkeit den Prager Frühling von seinem Ende her, vom Aufmarsch der Truppen und der Niederschlagung. Aus der tschechischen Perspektive geht es also um eine Tragödie", sagt der tschechische Historiker Pavel Kolar. Er arbeitet am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung und kennt deshalb auch die deutsche Sichtweise - "und die ist stark geprägt von den Ereignissen im Deutschland des Jahres 1968, von den Studentenunruhen und den gesellschaftlichen Umbrüchen." Der Prager Frühling als ein kurzes Aufflackern der Freiheit im sozialistischen Ostblock, mithin als ein Zeichen der Hoffnung; auch so lassen sich die Geschehnisse deuten.
Deutsche Historiker beschäftigen sich deshalb vor allem mit den Monaten, in denen das sozialistische Regime die Zügel gelockert hatte, in denen die zuvor unterdrückte Kulturszene ihre Renaissance erlebte - und sie beschäftigen sich mit den Wechselwirkungen zwischen der tschechoslowakischen Öffnung in Richtung Westen und der deutschen Studentenbewegung, die zur gleichen Zeit von einem in Prag verpönten Marxismus schwärmte.
Das deutsche Interesse am Prager Frühling ist deshalb bis heute groß - mit einem bizarr anmutenden Ergebnis: Die am prominentesten besetzte Veranstaltung zum 40. Jahrestag nämlich wird nicht etwa von Tschechen, sondern von Deutschen organisiert. Die Bundeszentrale für politische Bildung, der Deutschlandfunk und das Goethe-Institut erinnern zwei Tage lang an die Ereignisse. "Die Reformbewegung, ihre Niederschlagung und die darauf folgende Phase der sogenannten Normalisierung prägten nicht nur die Tschechoslowakei und ihre sozialistischen Bruderstaaten, sondern auch die sozialen Bewegungen in Westeuropa nachhaltig", schreiben die Veranstalter. Am Symposium im Prager Goethe-Institut nehmen viele der prägenden Figuren teil, die an der damaligen Öffnung des Sozialismus' beteiligt waren - Ludvik Vaculik etwa, der in seinem berühmten "Manifest der 2.000 Worte" die Forderungen der Intellektuellen an die Machthaber postulierte, wird dabei sein; ferner Pavel Kohout, einer der damaligen Wortführer, sowie Frantisek Cerny, damals Hörfunk-Journalist und nach der Wende Botschafter in Deutschland. An der Diskussion beteiligen sich außerdem der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, sein früherer tschechischer Amtskollege Jan Kavan und viele weitere Zeitzeugen. Fast vier Stunden lang wird der Deutschlandfunk live aus Prag berichten. "Wir sind in der Zeit der Normalisierung für viele Tschechoslowaken eine wichtige Informationsquelle gewesen, als die hiesigen Radioprogramme schon streng kontrolliert wurden", sagt Peter Hornung-Andersen, der ARD-Studioleiter in Prag: "Daraus ist eine Verbundenheit entstanden, die bis heute anhält."
Auf tschechischer Seite machen sich die Gedenkveranstaltungen zum 40. Jahrestag des Prager Frühlings vor allem am Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen fest. Die Zeitungen sind gefüllt mit Rekonstruktionen der Besatzung; das öffentlich-rechtliche Fernsehen sendet in der Nacht vom 20. auf den 21. August ununterbrochen die genau vier Jahrzehnte alten Bilder von den sowjetischen Militärflugzeugen, die im Minutentakt auf dem Prager Flughafen landeten, von den schweren Panzern, die sich aus allen Richtungen sternförmig auf die Hauptstadt Prag zu bewegten und von den Tschechen, die in wütendem Protest Straßensperren bauten und mit den blutjungen sowjetischen Panzerbesatzungen debattierten. Immer wieder wird in den Zeitungen der Kampf um das Rundfunkgebäude beschrieben, in dem sich einige Journalisten verbarrikadiert hatten, um so lange wie möglich die Nachrichten von der Invasion und ihren Folgen ins besetzte Land hinauszusenden.
Der Schock dieser einen Augustnacht, in der für die Tschechen ihr Traum von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zusammenbrach, ist bei allen Veranstaltungen zum 40. Jahrestag das dominierende Motiv. Das Nationalmuseum, das von Feuergefechten während der Besetzung stark beschädigt wurde und seither als eines der Symbole der Invasion gilt, hat eine Sonderausstellung zusammengestellt. Noch immer, sagt Oldrich Tuma, der Direktor des Prager Instituts für Zeitgeschichte, sei das Thema auch bei jüngeren Tschechen präsent. "Für die Öffentlichkeit ist der Prager Frühling aber einfach eine 40 Jahre zurückliegende Geschichte. Sie ist interessant und natürlich im Unterbewusstsein vorhanden - aber eine Überhöhung oder eine Heroisierung der Geschehnisse, die gibt es nicht."