ZWEITER BILDUNGSWEG
Studium ohne Abitur ist möglich - trotzdem besuchen viele Berufstätige zuerst Abendschule oder Kolleg
"Ich schaff das, auch wenn es nicht ganz leicht wird", sagt Manuel Dietsche mit fester Stimme. Der 22-Jährige drückt seit zwei Jahren wieder die Schulbank und hat ein wichtiges Ziel ganz nah vor Augen: In einem Jahr wird er sein Abitur in der Tasche haben und ist dann berechtigt, an jeder Hochschule in Deutschland zu studieren. Mit über 20 Jahren ist Dietsche etwas älter als der durchschnittliche Abiturient. Er gehört zu den Menschen, die auf dem so genannten "Zweiten Bildungsweg" einen Schulabschluss nachholen.
Dietsche hat in einer Kleinstadt in der Eifel bei Koblenz die Realschule besucht und danach eine dreijährige Ausbildung zum Tischler absolviert. Der Beruf hat ihm Spaß gemacht, noch heute schwärmt er: "Ich würde ein Leben lang als Tischler arbeiten." Dietsche benutzt den Konjunktiv, denn er hat festgestellt, dass sein erlernter Beruf nicht zu seiner Lebensplanung passt. "Ich will irgendwann ein eigenes Haus haben und Familie gründen", erklärt er seine Zukunftspläne. Das sei mit dem Gehalt als Tischlergeselle schwer möglich. Es sind unter anderem wirtschaftliche Aspekte, die ihm die Entscheidung leicht gemacht haben, das Abitur nachzuholen. "Die Motivation, wieder in die Schule zu gehen, war die Lage auf dem Arbeitsmarkt", sagt der 22-Jährige und hofft auf mehr Möglichkeiten mit dem Abiturzeugnis in seiner Bewerbungsmappe. Dietsche besucht das rheinland-pfälzische Koblenz-Kolleg, eine staatliche Einrichtung, die speziell für den schulischen Wiedereinstieg für Erwachsene mit Berufserfahrung gedacht ist. Schulgeld muss Dietsche keines bezahlen, außerdem bekommt er elternunabhängiges Bafög.
Laut Bundesagentur für Arbeit verzeichnen Abendschulen und Kollegs pro Jahr mehr als 50.000 Teilnehmer. Doppelt so viele nehmen an Kursen der Volkshochschulen zum Erwerb von Schulabschlüssen aller Art teil. Die Gründe liegen auf der Hand: "Das Nachholen von Schulabschlüssen ist ein Weg zu höherer Qualifizierung. Und das bedeutet immer auch mehr Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt", schreibt die Bundesagentur in ihrer Informationsbroschüre "Beruf Bildung Zukunft". So sieht es auch Manuel Dietsche: "Es ist schon leichter, wenn man besser qualifiziert ist", lautet seine Einschätzung.
Bis heute ist das Abitur die dominierende Voraussetzung zu einem Studium. Im europäischen Ausland, das ergibt eine Studie des Hochschul-Informations-Systems (HIS), sieht das anders aus. In Schweden haben sich beispielsweise 36 Prozent der Studenten nicht über den Schulabschluss, sondern über den Beruf für eine Hochschulausbildung qualifiziert. In Deutschland beschreiten gerade mal fünf Prozent diesen so genannten "Dritten Bildungsweg". Das ergibt im Vergleich mit 22 anderen EU-Ländern einen der hinteren Plätze. In Spanien und Schottland etwa kommt jeder dritte bis vierte Student ohne Abitur zum Hochschulstudium. Das geht prinzipiell auch hierzulande: In einigen wenigen Fächern ermöglichen Universitäten Menschen mit Berufserfahrung eine akademische Ausbildung. Die Zugangsvoraussetzungen werden aber an den Hochschulen unterschiedlich geregelt, bundeseinheitliche Kriterien gibt es nicht. Das ist unter anderem ein Grund, warum sich viele auf den "Zweiten Bildungsweg" begeben und das Abitur anstreben.
Abendschulen, Volkshochschulen, Telekollegs, Kollegs oder Fernschulen bereiten ihre Klienten auf die Schulabschlüsse vor. Diese Angebote wurden in Deutschland in den 1960er-Jahren eingerichtet. Damit sollten neue Möglichkeiten für eine Ausbildung oder ein Studium geschaffen werden. Traditionell ist der "Zweite Bildungsweg" deswegen ein Teil der Erwachsenenbildung und ein Zusammenspiel von beruflicher und schulischer Qualifikation.
Der Bedarf dazu ist augenscheinlich vorhanden. "Das Abitur ist momentan der einfachste Weg in ein Studium", bestätigt auch Nicole Künzel, Beraterin für akademische Berufe der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Inwieweit der Besuch einer Abendschule oder eines Kollegs allerdings möglich sei, hänge oft vom Beruf der Erwachsenen ab. "Häufig ist es nötig, den Job aufzugeben", ist Künzel überzeugt. Die Kurse seien in der Regel sehr zeitintensiv und besonders in ländlichen Regionen wegen mangelnder Infrastruktur schwer zu erreichen. "Viele Unternehmer unterstützen ihre Angestellten aber auch bei einem solchen Vorhaben und stellen die Betroffenen zeitweise von der Arbeit frei", weiß Künzel.
Ob es nach dem Studium für den Arbeitgeber eine Rolle spielt, wie der Bewerber seine Hochschulreife erlangt hat, kann Künzel nicht klar sagen. "Es kommt immer darauf an, wie interessant die betreffende Person ist", erklärt sie. Da könne es teilweise sogar von Vorteil sein, wenn die Lebensläufe nicht immer geradlinig seien. Darauf setzt auch Manuel Dietsche. "Ich denke, dass für künftige Arbeitgeber meine Leistungen im Studium zählen", sagt der Kollegschüler, der gerne Bauingenieurswesen studieren möchte. Bis jetzt bedauert Manuel nicht, dass er erst eine Beruf erlernt hat. "Ich denke, es ist positiv, dass ich eine praktische Ausbildung habe", ist er sich sicher. Dennoch räumt er ein, dass der nachträgliche Weg zum Abitur beschwerlich sein kann. "Es war nicht ganz leicht, nach drei Jahren Ausbildung wieder in die Schule zu gehen", erinnert sich Dietsche an die Anfänge. "So etwas ist nur mit viel Arbeit zu schaffen." Die Arbeit wird weitergehen - denn das Studium dauert schließlich mehrere Jahre.