STUDIUM
Um den Akademikeranteil auf EU-Niveau zu erhöhen, müssen sich die Hochschulen für Nicht-Abiturienten öffnen
Wenn von Durchlässigkeit im Bildungssystem die Rede ist, rückt schnell der Übergang von der beruflichen Bildung in die Hochschulen ins Blickfeld. Zuständig sind die Bundesländer, die die Zugänge auf sehr unterschiedliche Weise geregelt haben - für die Adressaten alles andere als transparent. Großzügige Regelungen stehen eher restriktive Regelungen und Verfahrensweisen gegenüber. Aber keinem Land ist es bislang gelungen, die Zahl der Studenten ohne Abitur oder Fachhochschulreife wirksam zu steigern. Die Anteile liegen durchweg unter einem Prozent der Studierenden - und damit deutlich niedriger als in anderen europäischen Staaten. Soll der Akademikeranteil aber gesteigert werden, wird dies nicht allein über mehr Abiturienten oder Absolventen mit Fachhochschulreife erfolgen können. Die Hochschulen müssten sich noch stärker für Absolventen einer Berufsausbildung öffnen sowie Lernleistungen aus der beruflichen Praxis mehr als bisher anrechnen.
Neben den formalen Hürden gibt es eine Reihe weiterer Hindernisse. Die Hochschulen müssen stärker Werbung für ihre Angebote machen. Sie propagieren weder die bestehenden Möglichkeiten noch machen sie die Auswahlverfahren und -kriterien ausreichend transparent. Stütz- und Brückenkurse, um fachliche Lücken der Studenten zu schließen, fehlen ebenfalls. Angesichts wachsender Studierendenzahlen und dem Bestreben, in der Forschung weltweit erfolgreich zu sein, ist diese Prioritätensetzung jedoch durchaus nachvollziehbar.
Das größte Problem dürfte aber wohl darin liegen, dass ein Vollzeitstudium für Praktiker kaum mit ihrer Berufs- und Lebenssituation in Einklang zu bringen ist. Denn wer eine berufliche Aus-bildung abgeschlossen und eine Familie gegründet hat, kann nicht einfach in der Mitte seines Lebens seine wichtigste Einkommensquelle aufgeben, um ein Studium zu beginnen. Notwendig wären berufsbegleitende Studienangebote, die an den beruflichen Einsatzfeldern ansetzen und sinnvolle Zusatzqualifikationen vermitteln. Auf diese Weise könnte ein Studium mit den Aufgaben in der Familie und dem Beruf besser in Einklang gebracht werden. Dazu aber müssten die Hochschulen der wissenschaftlichen Weiterbildung mehr Beachtung schenken und sie zu dem machen, was sie sein könnte, nämlich eine eigenständige Dienstleistung, die auf den Bedarf ihrer Kunden ausgerichtet ist.
Vom Anspruch her sind Bachelor-Studiengänge, vor allem an Fachhochschulen, berufsorientiert. Demnach müssten die Chancen eigentlich gut stehen, beruflich erworbene Qualifikationen auf ein Studium anzurechnen. Vergleiche von Ausbildungs-, Fortbildungs- und Studienordnungen lassen ein Potenzial für Anrechnungsmöglichkeiten erkennen. Unter Umständen könnte bis zu einem Fünftel der für einen ersten Hochschulabschluss erforderlichen Kreditpunkte allein durch eine vorangegangene Aus- und Fortbildung abgedeckt werden. Nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz könnten sogar bis zu 50 Prozent des Studiums durch berufliche Qualifikationen abgedeckt werden. Würde dieser Spielraum besser ausgeschöpft, könnte dies zu einer wirksamen Verkürzung von Studienzeiten beitragen.
Die Hochschulen verweigern eine Anrechnung mit dem Hinweis auf ein höheres Anspruchsniveau, den Abstraktionsgrad und die wissenschaftliche Methodik. Auch wenn in den Curricula ähnliche oder sogar gleiche Themen behandelt werden, könne man dies nicht gleichsetzen. Auf den ersten Blick erscheint dieses Argument sehr logisch, auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass dies nicht immer zutreffen muss. So dürfte das, was Bilanzbuchhalter über das kaufmännische Rechnungswesen lernen, dem Wissen weit überlegen sein, was ein Student der Betriebswirtschaftslehre üblicherweise an der Universität lernt.
Mit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge war nicht zuletzt die Hoffnung verbunden, dadurch eine leichtere Anerkennung beruflicher Qualifikationen zu ermöglichen. Denn der Anspruch der Berufsqualifizierung und die Ausrichtung auf erzielte Lernergebnisse provoziert geradezu die Frage nach Übergängen und wechselseitigen Anrechnungsmöglichkeiten. Zudem bieten die Modularisierung und die Einfüh-rung von Leistungspunkten gute Voraussetzungen für eine Anerkennung von Leistungen aus der beruflichen Bildung oder der beruflichen Praxis. Tatsächlich haben sich diese Erwartungen bislang kaum erfüllt. Die Zulassung von Praktikern sowie die Anerkennung beruflicher Kompetenzen wird ähnlich restriktiv behandelt wie zuvor in den Diplomstudiengängen. Das Nebeneinander von Bachelor-Studiengängen und der im Berufsbildungsgesetz geregelten Fortbildung setzt sich gegenwärtig bei der Entwicklung von Leistungspunkten fort. ECVET, das europäische Leistungspunktesystem für die Berufsbildung, entwickelt sich weitgehend losgelöst vom ECTS-System, mit dem die Leistungen von Studenten an Hochschulen innerhalb Europas verglichen werden - und umgekehrt. Chancen zur wechselseitigen Anrechnung drohen damit ungenutzt zu bleiben.
Duale Studiengänge - vor allem an (privaten) Fachhochschulen - zeigen indessen, wie es gehen kann. Abschlüsse in anerkannten Ausbildungsberufen oder Fortbildungsprüfungen sind regelmäßig systematischer Bestandteil der Studiengänge. Dazu wird das Studium gestrafft und in Betriebe oder andere Lernorte verlagert; auch werden Ausbildungsabschlüsse systematisch einbezogen. Zum Teil werden sie Leistungen, die üblicherweise in Zwischenprüfungen erbracht werden, gleichgesetzt. Auf diesem Wege kann der Anspruch, auf die berufliche Praxis ausgerichtet zu sein, wirksam umgesetzt werden. Die Erfahrungen zeigen, dass dies weder der Berufsausbildung noch den Studienleistungen abträglich ist.
Die Bereitschaft, Absolventen einer Berufsausbildung aufzunehmen oder Leistungen aus der Aus- und Weiterbildung auf ein Studium anzurechnen, wächst meist erst dann, wenn Standorte oder Studiengänge durch einen Mangel an Studierenden gefährdet sind. Dies ist bislang noch die Ausnahme. Es wäre eine wichtige Aufgabe, die dabei gesammelten Erfahrungen zu evaluieren und für den "Regelbetrieb" nutzbar zu machen. Denn früher oder später werden davon aufgrund der demografischen Entwicklung viele Hochschulen betroffen sein. Die Entwicklung eines europäischen und eines darauf basierenden Deutschen Qualifikationsrahmens (EQR/DQR) bietet die Chance, beim Thema "Durchlässigkeit" Fortschritte zu erziehen. Viele Fragen, die sich seit langem stellen, kommen dabei auf die politische Tagesordnung. Das gilt für den Zugang zu Bildungsgängen, die Wertigkeit von Abschlüssen, die Schaffung von Brücken und Übergangsmöglichkeiten sowie die Verzahnung formellen, non-formalen und informellen Lernens. EQF und DQR allein schaf-fen aber nur eine Voraussetzung für ein Mehr an Durchlässigkeit. Erst von der Anwendung und Umsetzung dieser Instrumente in konkrete Bildungspolitik sind nachhaltige Wirkungen zu erwarten. Notwendig dazu ist eine intensive Abstimmung zwischen allen Akteuren, denn ein Qualifikationsrahmen kann nicht einfach verordnet werden. Einen wichtigen Beitrag dazu können Entwicklungsprogramme leisten, in denen Möglichkeiten und Modelle praktisch erprobt werden.
Die zentrale Frage bei der Umsetzung des DQR wird sein, wie die beruflichen Abschlüsse in Relation zu den Hochschulabschlüssen eingestuft werden. Richtig wäre es, qualifizierte Abschlüsse in der Fortbildung auf einer Stufe mit Bachelor-Abschlüssen einzuordnen. Berufserfahrene Absolventen verfügen über vergleichbare Kompetenzen wie Hochschulabsolventen mit einem Bachelor-Abschluss. Sie üben vergleichbare Tätigkeiten aus und sind in gleicher Weise erfolgreich tätig. Eine derartige Einstufung muss dann aber Konsequenzen haben: Absolventen einer qualifizierten Fortbildung sollten die Möglichkeit haben, ihre Ausbildung in einem passenden Master-Studiengang fortzusetzen. Noch sind die Tore der Hochschulen an dieser Stelle fest verschlossen. Es wäre aber im Interesse auch der Hochschulen, Möglichkeiten für Übergänge, Auswahlverfahren und Förderkonzepte zu erproben.