LERNTEST
Die OECD will jetzt auch Erwachsene überprüfen. Die Studie ist umstritten
Andreas Schleicher sucht einen Beleg für das, was eigentlich alle zu wissen glauben. Dass lebenslanges Lernen entscheidend für den Erfolg in der Arbeitswelt der Zukunft ist. "Ich kann meinem Sohn erzählen, dass er in seinem Leben nicht aufhören soll, sich zu bilden. Aber habe ich wirklich Belege dafür, dass es so wichtig ist, wie ich denke?" Empirische Befunde über den Wert von Wissen für Erwachsene sind rar. Immer noch ist weitgehend unerforscht, welche Kenntnisse tatsächlich erforderlich für den Erfolg im Job und für die Teilhabe an der Gesellschaft sind. Und wie gut ist Deutschland im internationalen Wettbewerb der Wissensgesellschaften aufgestellt?
Andreas Schleicher, Bildungsforscher der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), kennt sich aus mit den großen Fragen der Bildungspolitik. Er war Koordinator der Pisa-Studie, die bis heute die Diskussion um das deutsche Schulsystem prägt. Nun will er sich in einer neuen Studie die Bildungskompetenzen der Erwachsenen vornehmen. 28 Staaten sind an der Entwicklung von PIAAC beteiligt, dem "Programme for the International Assessment of Adult Competencies". Nach einer Pilotphase und Feldtests ist der Beginn der Erhebung für das Jahr 2010 geplant. Schleicher glaubt fest an die Beutung der Empirie. "Pisa hat in den Köpfen mehr bewegt, als alle administrativen Maßnahmen vorher", sagt Andreas Schleicher. Aufgrund von Vermutungen lässt sich kein Bildungssystem bewerten und auch nicht entwickeln. "Wir wollen herausfinden, wo das Ideal des lebenslangen Lernens umgesetzt wird und mit welchen Mitteln das gelingt."
Noch befindet sich PIAAC in der Entwicklungsphase. Dennoch lässt sich schon heute sagen, dass in den Tests für die 16 bis 65 Jahre alten Probanden vor allem der Umgang mit Informationen und neuen Medien überprüft wird. Insbesondere dieser prägt laut Schleicher unsere Arbeitswelt. Dazu gehören die Recherche im Internet und die Einordnung von Quellen. Doch auch die Leistungen in Mathematik und Lesen werden getestet. Viel wichtiger sind Schleicher jedoch die begleitenden Fragebögen, die Aufschluss über die Lebens- und Arbeitssituation der Testpersonen geben sollen. Mit ihnen soll herausgefunden werden, wie wichtig Schlüsselqualifikationen wie etwa Teamfähigkeit für das Berufsleben sind. Aber auch Auskunft über ihre Wissensquellen sollen die Testpersonen geben. Und wie viel von ihren Qualifikationen tatsächlich in den Job hineinfließen. "Mit den Ergebnissen aus dieser Befragung hätte man eine Grundlage dafür, die Struktur von Weiterbildung im Berufsleben an die tatsächlichen Bedürfnisse anzupassen."
Nicht jeder sieht die Möglichkeiten von PIAAC und den Wert für die Bildungspolitik so optimistisch. Knut Diekmann, Bildungsreferent des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), zweifelt an dem Wert großer internationaler Studien. "Bei PIAAC bleibt die Fachkompetenz völlig außen vor. Damit sind die Ergebnisse für viele Unternehmen praktisch wertlos", sagt Diekmann. Denn nur die Gesamtschau aller Kompetenzen könne die derzeitige Bildungssituation realistisch abbilden. "Es ist doch viel wichtiger, einen konkreten Weiterbildungsbedarf festzustellen. Das geht nur, wenn man bestimmte Branchen, Personenkreise, Altersgruppen betrachtet", sagt Diekmann. Als Beispiel nennt er ältere Arbeitnehmer, denen allein schon wegen des demografischen Wandels zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse.
"Wenn ein Staat Wissenspotenziale nicht richtig nutzt, kann das für ihn langfristig Schwierigkeiten im globalen Wettbewerb bedeuten", meint Andreas Schleicher. In den Informationen der OECD zur Studie heißt es, PIAAC solle "ein weit umfassenderes und genaueres Bild des ‚Humankapitals' liefern, auf das Länder im globalen Wettbewerb zurückgreifen können." Andreas Schleicher ist davon überzeugt, dass fachliche Kompetenzen zwingend erforderlich sind. Allein darauf könne sich allerdings niemand hinsichtlich der rapiden Veränderungen der Berufswelt verlassen. "Ein Stahlarbeiter, dessen Hütte geschlossen wird, muss Fähigkeiten besitzen, die er auch in einem anderen Job einbringen kann." Transversal, also übergreifend, nennt Schleicher diese Eigenschaften.
Es ist zu befürchten, dass nur wenige Menschen in Deutschland auf diese Herausforderungen vorbereitet sind. Anlass zur Sorge gibt eine Studie der OECD zur Lesekompetenz, die zwischen 1996 und 1998 durchgeführt wurde. Die Ergebnisse der IALS (International Adult Literacy Survey) wurden 2000 veröffentlicht und sorgten trotz ihrer Brisanz für wenig Aufsehen. Anhand von verschiedenen Aufgaben wurde getestet, wie Erwachsene im Alter von 16 bis 65 Jahren mit schriftlicher Information umgehen können. IALS attestierte 14,4 Prozent der Testpersonen aus Deutschland "vollkommen unzureichende Lesefähigkeiten". Sie waren damit laut Studiendefinition "funktionale Analphabeten". Testpersonen, die so eingestuft wurden, waren beispielsweise nicht in der Lage, die richtige Dosierung einer Medizin für ein Kind anhand eines Beipackzettels zu bestimmen. Weitere 34,2 Prozent verfügten lediglich über "schwache Lesefähigkeiten". Zwar kommen sie im täglichen Leben zurecht, allerdings haben sie Schwierigkeiten, sich neue Fähigkeiten für ihren Job anzueignen. Legt man den Anspruch der Studie zugrunde, repräsentativ für die jeweiligen Staaten zu sein, war also knapp die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland nicht für die Anforderungen einer modernen Wissensgesellschaft gerüstet. "Hochdramatisch", nennt Dieter Gnahs vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung die Ergebnisse von damals. "Bei einem hoch entwickeltem Staat wie Deutschland sind solche Werte schon sehr erstaunlich." Spitzenergebnisse erzielte hingegen Schweden. Hier lag der Anteil von funktionalen Analphabeten lediglich bei 7,5 Prozent, also knapp halb so hoch. Dennoch hatte die Studie bei weitem nicht den Effekt, den knapp ein Jahr später Pisa entfaltete. Wohl auch aus dem Grund, dass Industrienationen wie Großbritannien oder die USA noch erheblich schlechter abgeschnitten hatten als Deutschland. Es ist zu erwarten, dass sich das bei PIAAC ändern wird. "Pisa hat für Bildungsthemen sensibilisiert", sagt Dieter Gnahs.
Und es ist kaum zu erwarten, dass die Ergebnisse von PIAAC stark von denen der IALS abweichen werden. Denn diejenigen, die schon bei Pisa gescheitert waren, sind heute junge Erwachsene und werden nun von PIAAC erfasst. Zudem ist das Konzept des lebenslangen Lernens zwar durchaus populär, dennoch nahmen im Jahr 2006 nach Angaben des Bundesinstituts für Berufsbildung nur 23 Prozent der Bevölkerung in Deutschland im Alter von 15 bis 64 an Weiterbildungskursen teil. Bei IALS wurde außerdem beobachtet, dass gerade schwache Leser ihre eigenen Lesefähigkeiten häufig überschätzen. Die Motivation zum Weiterlernen wird dadurch nicht unbedingt unterstützt. "Wir denken immer noch zu sehr, dass Bildung irgendwann abgeschlossen ist. Dabei verlagern sich wichtige Bildungsprozesse längst in das Leben nach Schule und Ausbildung", sagt Andreas Schleicher.
Der Deutsche Volkshochschul-Verband findet es deshalb auch grundsätzlich richtig, dass mit der PIAAC-Studie nun Kompetenzmessungen bei Erwachsenen erfolgen sollen. "Vielleicht kann PIACC mittelbar auch dazu beitragen, dass der Weiterbildung als Teil des Lebenslangen Lernens mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird", hebt die stellvertretende Direktorin des Verbandes, Gundula Frieling, hervor. Die Studie könne die Voraussetzung dafür schaffen, bildungspolitische Entscheidungen vorzubereiten und zu fundieren.
Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung, erhofft sich von PIAAC noch eine viel grundlegendere Diskussion um die Bedeutung von Bildung für die Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft. "Nur wer schreiben und lesen kann, hat auch die Möglichkeit, seine Grundrechte wahrzunehmen, sich eine Meinung zu bilden, aktiv an demokratischen Prozessen teilnehmen." Wer auf die Erwachsenen zugehe, könne damit auch vom Grunde an die Schwierigkeiten des Bildungssystems angehen. Man müsse den Erwachsenen vermitteln, dass sie, wenn sie selbst lesen lernen und üben, auch besser ihren Kindern in der Schule helfen können. Dass es nicht einfach ist, die Eltern zu erreichen, räumt Hubertus ein. "Wer beschäftigt sich schon gern mit einem Thema, an dem er schon in der Schule gescheitert war?"
Die Bundesregierung hat den Wert von Lesen und Schreiben inzwischen erfasst. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat im September 2007 einen Etat von 30 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener zur Verfügung gestellt. Bis zum Jahr 2012 soll die Zahl der Analphabeten in Deutschland halbiert werden, lautet das erklärte Ziel der Regierung. Dabei müssten allerdings auch die Länder mitspielen, in deren grundsätzlichen Hoheitsbereich das Thema Bildung fällt, so der Bund. "Ich sehe bislang zu wenige Anstrengungen aus dieser Richtung", sagt Peter Hubertus. Es fehle in vielen Bundesländern an Alphabetisierungskursen und entsprechend ausgebildeten Kursleitern. Der internationale PIAAC-Test könnte ein Ansporn sein, dass die Bundesländer nach den Schulen nun auch die Erwachsenenbildung als Feld für Reformen und Verbesserungen für sich entdecken.