PROJEKTE
Mit ungewöhnlichen Ideen motivieren Arbeitgeber Lehrlinge manchmal mehr, als durch neue Gesetze zu erreichen wäre. Zwei Beispiele aus Berlin
Die sechs Gäste am Tisch verstummen, als einer der Kellner vorliest, was die Berliner Runde gleich erwartet: Insgesamt werden an diesem Abend fünf Gänge serviert. Zwei junge Männer umkreisen mit weißem Hemd und schwarzer Fliege den Tisch, um Essen zu servieren, Weine zu kredenzen oder Geschirr abzuräumen.
Hier stimmt einfach alles: Die Kellner sind gut eingespielt, das Menü reicht von Perlhuhnbrust zu Zimthalbgefrorenem wie in einem Sternerestaurant. Doch dieses Diner wird nicht in einem gut situierten Stadtteil, sondern im Schatten eines sozialen Brennpunkts aufgetischt: Die Runde tafelt unmittelbar neben dem so genannten "Pallasseum" in Berlin-Schöneberg. Der riesige Gebäudekomplex aus den 1970er-Jahren war lange als gefährliches Ghetto verschrien. Um dem sozialen Abwärtstrend entgegenzuwirken, wurde unter anderem das "Palladin" geschaffen: ein Café samt Kochschule. Die gastronomische Einrichtung soll den Stadtraum beleben - und den Jugendlichen im Kiez berufliche Perspektiven geben.
Emir, der das Fünf-Gänge-Menü in der Kochschule Palladin serviert hat, ist unmittelbar in der Nachbarschaft groß geworden. Der 20-Jährige hatte an diesem Abend ein wenig Lampenfieber. Kein Wunder, ist dieser Abend doch eine Generalprobe für seine bald anstehende Prüfung zum Restaurantfachmann. Mit seinen drei Kollegen zeigt er an diesem Abend in der Kochschule, dass sie auch in der gehobenen Gastronomie mitspielen können. Emir hat schon ein Jobangebot: Er geht an die Ostsee, ins "Kaiserbad" Heringsdorf.
"Dass wir hier so einen ‚Edelschuppen' aufziehen, war gar nicht geplant", sagt Brigitte Keller und schmunzelt. Die Geschäftsführerin des Trägervereins ubs - Umwelt, Bildung, Sozialarbeit ist ein Fan des Starkochs Jamie Oliver. Sie wollte eigentlich "einen schrägen Schuppen für schräge Jugendliche" eröffnen. Doch das Profil, das dabei entstand, ergänzt sich hervorragend mit dem restlichen Angebot. Denn seine 60 Azubis bildet der Verein überwiegend in Großküchen aus. Die Kochschule ist die einzige Einrichtung, in der die sie das Segment "á la Carte" kennenlernen.
Damit dieses Projekt überhaupt an den Start gehen konnte, bedurfte es einer Anschubfinanzierung durch das Quartiersmanagement. Über ein Ausbildungsprogramm vom Land Berlin erhält der Verein zwar Mittel für die Qualifikation der Jugendlichen, doch das Café muss sich seit Anfang 2007 selber tragen - also schwarze Zahlen schreiben. "Das ist gerade in einem sozial fragilen Umfeld schwierig", sagt Keller. "Und hier geht es um mehr als nur Jobs: Wir schaffen soziale Perspektiven - für unsere Azubis wie für das ganze Wohnquartier."
Neue Perspektiven hat auch Ulrich Unbekannt seinen Azubis verschafft. Der Geschäftsführer der Berliner Biosupermarktkette viv hat zehn seiner Zöglinge gleich eine komplette Filiale in Obhut gegeben. Wer das Ladenlokal auf der Warschauer Straße in Berlin-Friedrichshain aufsucht, betritt einen behaglichen, gut sortierten und aufgeräumten Supermarkt. Auch dass die Belegschaft durch die Bank weg recht jung erscheint, lässt kaum vermuten, dass es sich hier um ein "Jugendkollektiv" handelt. So lautet die ironische Bezeichnung der neuen Zweigstelle im Unternehmen.
Die Belegschaft in der Filiale besteht aus Lehrlingen, die ihre Ausbildung bei der Gründung im Mai noch nicht beendet hatten. Selbst die Filialleitung setzt sich aus ehemaligen Auszubildenden des Betriebs zusammen. "Das war schon eine spannende Herausforderung", sagt Jan Trinkaus, der schon als Lehrling in den Genuss kam, die stellvertretende Leitung des Betriebs zu übernehmen. Ganz unvorbereitet war das Jugendkollektiv freilich nicht: Fast alles, was in der neuen Filiale zu tun war, kannten die Mitglieder des Teams bereits aus ihrer Ausbildung. Rund zweieinhalb Jahre ihrer dreijährigen Ausbildung hatten sie schließlich schon absolviert. "Manches war aber auch neu", erinnert sich Trinkaus, "etwa die Organisation des Geldverkehrs oder das Arrangieren von Verkostungsterminen für unsere Kunden." Sein Fazit lautet: "Es war toll, dass alles selber in die Hand nehmen zu dürfen."
Das Team hat nicht nur den Aufbau eigenhändig unterstützt, sondern wird auch künftig die Filiale leiten. Dahinter steckt Programm: "Wir wollen den Nachwuchs fördern und ihm die Chance geben, schnell Verantwortung zu übernehmen und eigene Ideen einzubringen", erläutert Unbekannt. "Niemand sonst wäre besser geeignet unsere neue Filiale zu führen, als die von uns ausgebildeten jungen Mitarbeiter." Der rege Kundenverkehr in der neuen Filiale scheint ihm Recht zu geben.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin. Er arbeitet u. a. für den "Tagesspiegel".