Russland und die EU
Nach dem Krieg in Georgien geht es nur noch um Schadensbegrenzung
Die Hoffnung starb zuerst. Drei Monate nach der Amtsübernahme des neuen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew sind die Beziehungen zwischen der EU und Russland so schlecht wie nie zuvor seit dem Ende des Kommunismus in Europa. Dabei schien vor der russischen Intervention in Georgien in manchen Äußerungen Medwedews die Möglichkeit einer Entspannung in dem unter Präsident Putin immer schwieriger gewordenen europäisch-russischen Verhältnis auf - meist freilich weniger des Inhalts seiner Reden als des Tonfall und der Akzente wegen, die er setzte. Immer wieder sprach Medwedew von der Notwendigkeit, den "rechtlichen Nihilismus" zu überwinden, der sich in Russland breit gemacht habe, von der Freiheit der Wirtschaft, vom Respekt vor dem Privateigentum, von den Rechten der Bürger. Den russischen Staat bezeichnete er ausdrücklich als europäisch, russische Sonderwege kamen in seinen ersten außenpolitischen Reden nicht vor. Die westliche Kritik am Mangel an Demokratie und Freiheit in Russland nahm Medwedew wenigstens rhetorisch ernst, statt sie - wie Putin - schroff abzubügeln.
Medwedew selbst hatte auf Fragen nach diesen Unterschieden zu seinem Vorgänger stets geantwortet, er pflege zwar einen anderen persönlichen Stil, sei sich mit ihm in den politischen Inhalten aber vollkommen einig. In den Tagen des russisch-georgischen Krieges schwanden dann auch die rhetorischen Unterschiede. Die Spekulationen über die Frage, ob Medwedew seine Worte über eine Liberalisierung Russlands ernst meinte, und - falls ja - ob er sich gegen seine Widersacher in der russischen Elite damit durchsetzen könnte, sind nun wenigstens für das Verhältnis zwischen der EU und Russland auf lange Sicht gegenstandslos.
In den neuen EU-Mitgliedstaaten im Osten, wo das Geschehen in Russland aufgrund von schlechten historischen Erfahrungen ohnehin mit einer argwöhnischen Aufmerksamkeit betrachtet wird, sind durch die Intervention in Georgien die schlimmsten Ängste bestätigt worden.
Für ihre Haltung gegenüber Moskau und die Positionen, die sie in der EU dazu vertreten, ist es vorerst belanglos, ob der Herrscher im Kreml sich etwas mehr oder weniger liberal gibt. Nach den Bildern von den russischen Panzern in Georgien - die sich auf fatale Weise mit der Erinnerung an die Niederschlagung des Prager Frühlings vor 40 Jahren überlagerten - ist Russland für Estland, Lettland, Litauen, Polen und wohl auch die Tschechische Republik kein Partner mehr, sondern eine Bedrohung. Medwedew war in den Ländern des einstigen sowjetischen Machtbereichs schon vor dem russisch-georgischen Krieg misstrauischer als in Westeuropa betrachtet worden. Während die Westeuropäer geneigt waren, in Medwedew einen Vertreter der offenen, kooperationsbereiten Kräfte im Kreml zu sehen, wurde in Ostmitteleuropa keinen Augenblick vergessen, dass er vor seiner Beförderung zum Präsidenten die Geschicke von Gasprom gelenkt hat - und zwar in jenen Jahren, in denen die Energiemacht Russlands systematisch zur außenpolitischen Waffe gemacht wurde.
Beide Sichtweisen ergänzten sich im Grunde: Es ging um die Chancen und die Grenzen in der Zusammenarbeit mit Moskau. Innerhalb der EU wurden die unterschiedlichen Einstellungen zu Moskau bisher allerdings vor allem als Gegensätze wahrgenommen. Daran hat sich auch nach dem Einmarsch in Georgien zunächst nichts geändert, wie die Brüsseler Demonstrationen der Uneinigkeit in den Tagen darauf zeigten. Doch das ganze Koordinatensystem hat sich verschoben, weil Russland eine rote Linie überschritten hat. Das Moskauer Doppelspiel, auf der einen Seite in den westeuropäischen Hauptstädten die Bereitschaft zu einer verlässlichen Partnerschaft hervorzuheben, gleichzeitig aber gegenüber Neumitgliedern mit freundlicher Miene eine Politik der schmerzhaften kleinen Nadelstiche zu pflegen, wird künftig weniger gut funktionieren. Jene Kräfte in der EU, die wie die Bundesregierung noch immer einer Einbindung Russlands das Wort reden, werden es nun schwerer haben. Dabei stellt sich die Frage, welche Zusammenarbeit mit Moskau noch möglich ist und welche nicht, nun noch dringlicher als zuvor. Dass es eine Zusammenarbeit geben muss, ist klar - beide Seiten benötigen sie. In Ostmitteleuropa weckt nicht nur das russische Eingreifen in Georgien an sich, sondern auch dessen propagandistische Darstellung als "Friedensmission" ungute Erinnerungen an die Sowjetunion. Das wird einem geschichtspolitischen Streit neue Nahrung geben, dessen Brisanz den westeuropäischen EU-Mitgliedern erstmals bewusst wurde, als Estland 2006 nach der Versetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals in Tallinn von Unruhen erschüttert wurde.
Die russische Regierung warnt Polen und die baltischen Staaten seit Jahren vor Versuchen, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs "umzuschreiben". In der neuen "Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation" wird gar gefordert, dass die internationale Gemeinschaft zu einer "gemeinsamen Sicht" dieser Geschichte kommen müsse. Den Balten und den Polen, die im Einmarsch der Roten Armee in ihre Länder im Jahr 1945 keine Befreiung, sondern die Ablösung einer Schreckensherrschaft durch die andere sehen, werden "faschistische Tendenzen" vorgeworfen - in der offenkundigen Absicht, ihre Position in der EU moralisch zu schwächen. Die Tatsache der sowjetischen Okkupation des Baltikums wird von der russischen Regierung geleugnet. Vor diesem Hintergrund ist in diesen Ländern ein gegen Moskau gerichteter Konsens entstanden, der schon vor dem Krieg in Georgien fester als in den 1990er-Jahren war. Dabei gibt es auch zwischen den westeuropäischen EU-Mitgliedern und Russland ausreichend Stoff für Missverständnisse und Konflikte. Zum einen sind im Westen noch immer Restbestände der Ansicht im Umlauf, man müsse Russland beibringen, wie man zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft gelangt. Das alte Partnerschafts- und Kooperationsabkommen aus dem Jahr 1997 atmet diesen Geist eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses, auf den die Russen mit Recht ausgesprochen allergisch reagieren.
Die Äußerung Präsident Medwedews nach dem Ende der Kämpfe in Georgien, Russland fordere vor allem, dass man es achte, ist eine Antwort auf diese herablassende westliche Attitüde, die nun vielerorts in Furcht umzuschlagen scheint. Vor allem aber gibt es handfeste Interessenunterschiede zwischen dem Energielieferanten Russland und dem Energieabnehmer EU. Diese liegen zum Teil in der Natur der Sache, werden aber durch die russische Politik verstärkt, die auf der einen Seite westliche Unternehmen mit rüden Methoden aus dem Öl- und Gassektor in Russland herausdrängt, gleichzeitig aber für russische Unternehmen ungehinderten Zugang zu den Versorgungsnetzen in der EU fordert. Russland wird unter Präsident Medwedew in dieser Frage nicht nachgiebiger sein als unter Putin. Voraussetzung für ein Entgegenkommen der EU aber wäre die Gewissheit, dass Russland sich an Regeln nicht nur dann hält, wenn sie in seinem Sinne sind. Doch auch daran sind die Zweifel durch den Krieg in Georgien gewachsen. Öl und Gas spielten darin zwar nur eine Nebenrolle, doch wurden von russischen Flugzeugen einige Warnschüsse auf die Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan gefeuert, durch die an Russland vorbei Öl aus Aserbaidschan und vermutlich bald auch Kasachstan nach Westen fließt. Von den vorsichtigen Hoffnungen, die sich für kurze Zeit mit dem neuen Präsidenten Dmitri Medwedew verbunden haben, ist nach dem Krieg in Georgien nichts mehr übrig. Jetzt wäre es schon ein großer Fortschritt, wenn man wieder bei dem gespannten und gereizten Verhältnis wäre, das herrschte, als Präsident Putin aus dem Amt schied.
Der Autor ist außenpolitischer Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".