ROMA
Kritik und Hoffnung auf Gleichberechtigung bei dem ersten europäischen Gipfel in Brüssel
Als die junge Journalistin Violeta Draganova mit ihrer Schwester und ihrem Neffen ins städtische Schwimmbad ihrer bulgarischen Heimatstadt gehen wollte, wurde sie am Eingang abgewiesen. Roma seien hier unerwünscht. Seit 2003 gibt es in Bulgarien immerhin eine Kommission zum Schutz gegen Diskriminierung, die den Fall der Familie Draganova nun bearbeitet. Violeta hofft, dass viele Roma ihrem Beispiel folgen und sich die täglichen Demütigungen nicht länger gefallen lassen.
Die neunjährige Enikö Horváth hat es gut getroffen. Sie kann zusammen mit anderen ungarischen Kindern eine ganz normale Grundschule besuchen. Nach Schätzungen gehen 80 Prozent der Romakinder in Osteuropa in Sonderschulen oder besuchen überhaupt keine Bildungseinrichtung. "Wenn ich groß bin, möchte ich in einer Konditorei arbeiten, meiner Mutter helfen und ein Pferd besitzen", erzählt das kleine Mädchen stolz.
Gerührt klatschten die Teilnehmer des ersten europäischen Romagipfels in Brüssel über den versöhnlichen Schluss eines niederschmetternden Dokumentarfilms über die größte europäischen Minderheit. Auf bis zu 12 Millionen Menschen wird die Gemeinschaft im erweiterten Europa der 27 Mitgliedsstaaten geschätzt. Doch verlässliche Zahlen gibt es kaum. Der tschechische Sozialwissenschaftler Ivan Gabal hat in mehreren Studien für die EU-Kommission und die tschechische Regierung die Situation der Roma in seinem Land untersucht. Als er 2005 anfing, gab es keinerlei Daten über Wohnungssituation, Bildungsstand und Arbeitschancen der Roma in Tschechien. "Wenn wir kein exaktes Bild von der Situation zeichnen können, werden wir die Regierung nicht dazu bewegen zu handeln, so Gabal. Noch 2006 habe ein Bürgermeister, der eine Romafamilie aus ihrem Haus im Stadtzentrum vertrieb, die nächste Wahl mit einem Traumergebnis gewonnen. "Andere Lokalpolitiker kopierten ihn. Das war ein Erfolgsmodell!"
Zehn Monate lang bereisten Mitarbeiter von Gabals Institut die Romasiedlungen in Tschechien. "Das Ergebnis war schockierend", berichtet der Wissenschaftler. Es gebe 360 Roma-Ghettos in seinem Land, die meisten seien erst in den letzten zehn Jahren entstanden. Viele Häuser hätten weder Wasser noch Heizung. 80 bis 90 Prozent der Erwachsenen seien arbeitslos, die meisten Kinder beendeten nicht einmal die Grundschule. Die Berichte aus anderen osteuropäischen Ländern bestätigen diese Bestandsaufnahme. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Roma liegt zehn bis fünfzehn Jahre unter dem europäischen Durchschnitt.
Doch auch in Westeuropa ist die Situation "besorgniserregend", wie Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland, in seinem Vortrag ausführte. Als Beispiel für "rassistische Hetze, gerade von Seiten der Behörden und staatlichen Stellen" nannte er einen im Oktober 2005 in der Fachzeitschrift des Bundes Deutscher Kriminalbeamter erschienenen Artikel. Der Autor hatte Sinti und Roma als
"Made im Speck der Wohlfahrtsgesellschaft" bezeichnet. Das zuständige Oberlandesgericht Brandenburg hatte eine Klage wegen Volksverhetzung abgewiesen.
In einigen Staaten Osteuropas seien die Lebensbedingungen der Roma und Sinti unzumutbar. "Da dem ein ausgeprägter Rassismus zu Grunde liegt, nutzen alle Programme nichts. Ausbildung hat nur Sinn, wenn mir der Staat vermittelt, dass ich erwünscht bin, dass ich eine Perspektive habe", sagt Rose. Das sieht Rudko Kawczinski, der Präsident des Europäischen Roma und Traveller Forum (ERTF), ähnlich. "Die Lage für die Roma in Europa ist schlimmer als für die Schwarzen in Südafrika unter der Apartheid. Außer dem guten Rat, sie sollten zur Schule gehen, höre ich nichts." Ständig werde über die Roma geredet, nie mit ihnen. "Kein einziger Rom arbeitet in der EU-Kommission oder im Europarat". An Geld fehle es nicht, 300 Millionen Euro habe die EU-Kommission in den Jahren 2000 bis 2006 in Roma-Förderprogramme gesteckt. Über die eigentlichen Probleme aber rede niemand. "Der Antiziganismus ist Bestandteil der europäischen Kulturen - überall! Nach 800 Jahren in Europa sollen wir uns also plötzlich integrieren, nachdem man vorher alles getan hat, um uns loszuwerden!" 200.000 Roma seien vor den Augen der Nato aus dem Kosovo vertrieben worden, niemand rede darüber.
Seine Stellvertreterin Miranda Vuolasranta aus Finnland beurteilt den ersten europäischen Romagipfel deutlich weniger kritisch. Natürlich sei Kawczinski frustriert, weil die EU-Kommission das Treffen schlecht vorbereitet habe. Die Auswahl der eingeladenen Organisationen sei zufällig, der Dolmetscher für das von den Roma als Muttersprache betrachtete Romanes schlicht vergessen worden. "Andererseits sorgt der erste europäische Romagipfel dafür, dass das Thema ganz oben auf die politische Agenda kommt", hofft sie.