TSUNAMI In Aceh brachte die Flut auch Frieden. Wie belastbar er ist, bleibt fraglich. Denn: 2009 laufen viele Hilfsprojekte aus
Mit ihrem orange-blauen Schal fächert sich Nureini beim Warten immer wieder etwas Luft zu. Dann gibt die 39-jährige Indonesierin der Beamtin die ausgefüllten Papiere. Auch die Frau in der beigefarbenen Uniform wischt sich den Schweiß von der Stirn. Auf das Dach ihres "Büros" brennt wieder einmal die Mittagssonne: Es ist der umgebaute Innenraum eines Kleintransporters, in dem der Platz gerade einmal für einen Klapptisch und zwei Sitzbänke reicht. Das knallblaue Auto mit dem Emblem einer deutschen und einer indonesischen Fahne auf der Tür steht schon seit dem Morgen neben dem Dorfgemeinschaftshaus. Zwischen den graubraunen Bambusdächern und grünen Reisfeldern wirkt es wie ein Fremdkörper der Moderne in einer vergangenen Welt.
Zwei Welten sind es, die hier in dem kleinen Dörfchen Deboih, rund 130 Kilometer von der Stadt Banda Aceh entfernt an der Ost-küste Sumatras, aufeinandertreffen. Hans-Hennig Sawitzki, der vor dem Gemeindehaus steht, kennt sie beide. Er ist in der indonesischen Region Aceh als Berater für die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) tätig: "Wir unterstützen den Wiederaufbau des Einwohnerwesens in Aceh", sagt der freundliche, weißhaarige Mann mit den kleinen Geheimratsecken, der fast sein gesamtes Berufsleben im Ausland verbracht hat. Obwohl er eigentlich schon im Ruhestand war, hat es ihn vor drei Jahren nochmal gepackt und er ist als Berater für GTZ-Projekte nach Indonesien gekommen.
Der glänzende, blaue Kleinbus ist Symbol für neue Entwicklungschancen in der Region. Denn das "rollende Einwohnermeldeamt" gibt erstmals auch Frauen auf dem Land wie Nureini eine Chance, Dokumente und Papiere zu erhalten. Auch wenn die nächste Kreisstadt Sigli eigentlich nur 15 Kilometer entfernt ist, kann es sich hier niemand leisten, extra dorthin auf ein Amt zu fahren. "Schon eine einfache Fahrt in die Stadt würde 10.000 Rupien kosten, etwa so viel wie ein Bauer pro Tag verdient", sagt Andi Rahmadsach, der als lokaler Mitarbeiter vor Ort arbeitet.
Seit dem frühen Morgen kommen die Bewohner des Dorfes und der Umgebung hierher. Sie haben vom Dorfvorsteher gehört, dass man hier Dokumente wie einen Personalausweis oder wie Nureini Geburtsurkunden für ihre fünf Kinder beantragen kann. Während in Deutschland Experten verzweifelt über den Abbau von Bürokratie und Papierbergen nachsinnen, symbolisieren die Schriftstücke und Dokumente hier in der einstigen Bürgerkriegsregion Aceh für viele ein Stück Hoffnung und Aufbruch.
Sie bedeuten Normalität und Neuanfang in einer Region, in der Ende 2004 die Welle des Tsunamis nicht nur 170.000 Menschen in den Tod riss und über 500.000 Menschen obdach- und besitzlos werden ließ, sondern auch Infrastruktur und Verwaltung total zum Erliegen brachte. In einer Region, in der bis 2005 rund 30 Jahre ein blutiger Bürgerkrieg zwischen der Zentralregierung in Jakarta und der Acinesischen Befreiungsbewegung (GAM) um die Unabhängigkeit der rohstoffreichen Provinz wütete. Ein "vergessener Konflikt", in dem Tausende Menschen grausam starben. In einer Provinz, in der statt Bürgerrecht Kriegsrecht herrschte. Erst die Wahlen 2006 brachten Frieden und politische Stabilität.
"Aceh war eine tabuisierte Gegend", sagt Marcus Lange, der das Einwohnerprogramm für die GTZ leitet. Er kam im Januar 2005 wenige Wochen nach der Flutkatastrophe im Indischen Ozean in die Krisenregion, die am Schwersten von dem Unglück betroffen war. Bis heute hat der 39-Jährige die grausamen Bilder von bis zu 20 Meter hohen Leichenbergen und gespenstischen Landschaften nicht vergessen. Doch gerade diese Erfahrungen haben die Helfer und Experten vor Ort besonders geprägt: "Ich habe noch nie so ein Committment erlebt wie 2005", sagt der Sozialwissenschaftler und fügt hinzu: "Ich glaube, das lag einfach am ungeheuren Ausmaß der Katastrophe."
Um ihr zu begegnen, setzte weltweit eine bisher ungekannte Welle der Hilfsbereitschaft ein: Weit über 600 internationale Organisationen engagierten sich in der Region - allein in Deutschland spendeten die Menschen mehr als 600 Millionen Euro an nichtstaatliche Hilfsorganisationen. Von öffentlicher Seite beschloss der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages in seiner Sitzung im Mai 2005, insgesamt 500 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. "Damit war Deutschland der größte Geldgeber innerhalb der Europäischen Union", sagt Annette Bremer, die sich im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) um die Tsunami-Wiederaufbauhilfe gekümmert hat. Dort bekam das Programm sogar einen eigenen Haushaltstitel, der sich auf fünf Jahre erstreckte. Im Jahr 2009 ist er erschöpft.
Auch das GTZ-Programm zur Unterstützung des Einwohnerwesens in Aceh wurde aus diesen Mitteln finanziert. Eine nachhaltige Maßnahme, wobei Melderegister "sicher nicht das erste sind, woran man beim Aufbau einer Region denkt", erklärt Annette Bremer. Familienbuch, Personalausweis oder Pass, was in Europa selbstverständlich ist, brachte in Aceh ungeahnte Schwierigkeiten. "Das Personenstandswesen wird in vielen islamischen Ländern fälschlicherweise als ein christliches Konzept wahrgenommen. So gab es auch in Aceh anfangs Vorbehalte des islamischen Gelehrtenrates", erzählt Marcus Lange. Die Vertreter der Religionsbehörde spielen in der Provinz Aceh eine besondere Rolle, da in der Region mit ihrem besonderen Autonomiestatus das islamische Recht der Scharia gilt.
In unzähligen Gesprächen haben Lange und seine Mitarbeiter versucht, Bedenken auszuräumen und zusammen mit den Partnerorganisationen nach akzeptablen Lösungen zu suchen. Als die Geistlichen dann im Jahr 2006 eine Fatwa - ein Rechtsgutachten mit dem die Vereinbarkeit mit dem Islam geklärt wird - herausgaben, sich registrieren zu lassen, war dies für das Vorhaben ein Meilenstein. Mit den neuen Papieren ist es - nicht nur für die Tsunami-Opfer - erstmals möglich geworden, Ansprüche auf Grundstücke geltend zu machen oder sich für Wahlen registrieren zu lassen. "Wir wollen mit dem Programm gerade auch Frauen dazu bewegen, sich registrieren zu lassen, um damit auch an den Wahlen teilnehmen zu können."
Die nächsten Wahlen finden schon im kommenden Jahr statt. Dann entscheiden die Indonesier nicht nur über einen neuen Präsidenten, sondern die Einwohner der Provinz Aceh auch über ein neues Regionalparlament. Ein wichtiger Stimmungstest, inwieweit die Region seit Ende des Bürgerkrieges wirklich befriedet werden konnte.
Knapp vier Jahre nach dem Schrecken des Tsunami und drei Jahre nach dem Friedensabkommen zwischen der Zentralregierung und den GAM-Kämpfern erinnert in Banda Aceh äußerlich nur noch erstaunlich wenig an die doppelte Tragödie von Tsunami und Bürgerkrieg. Wo einst meterhohe Berge von Schutt und Trümmern ein Bild der Verwüstung boten, stehen heute an frisch geteerten Straßen bunte Fertighäuser mit leuchtend blauen Dächern, neue Schulen und wiederaufgebaute Moscheen. Gerade wurde der neue Hafen eröffnet und auch der überdimensioniert wirkende neue Flughafen, der mit seiner Kuppel eher an eine Moschee erinnert, soll bald in Betrieb gehen.
Trotz dieser sichtbaren Erfolge wird das Jahr 2009 für die GTZ wie auch für viele andere Hilfsorganisationen zum Lackmustest. Denn die meisten Vorhaben laufen dann aus. Schon seit Monaten beschäftigen sich Lange und sein Team mit der Frage, wie sie ihre Projekte am besten an ihre Partner übergeben können. "Wir können ja nicht bei voller Fahrt einfach aussteigen", sagt die Architektin Tanja Feldmann, die bereits seit einigen Jahren in Aceh arbeitet. Statt vom Ende spricht sie lieber vom Auslaufen der Projekte. Im Oktober wird aber auch sie Banda Aceh in Richtung Deutschland verlassen.
Bereits jetzt sind 200 Hilfsorganisationen abgereist. Mit ihnen wird auch ein großer Teil der Wirtschaftskraft die Stadt wieder verlassen: Übersetzer, Taxifahrer, Restaurantbesitzer - alle, die mit den ausländischen Experten ihren Lebensunterhalt verdient haben, werden dies schon bald zu spüren bekommen. Es fehlt an langfristigen Investitionen. Auch die Idee, in Banda Aceh einen "Scharia-Tourismus" zu etablieren, der "sicheren Urlaub für Muslime" verspricht, dürfte die wirtschaflichen Probleme nicht lösen. Was der Abfluss der Wirtschaftskraft für die politische Stabiliät und die Kontinuität des Friedensprozesses bedeutet, ist nur schwer vorherzusagen. Die Menschen werden unruhiger, beobachten Experten internationaler Organisationen vor Ort.
Wenigstens Nureini hat erstmal eine kleine Sorge weniger. Sie hat alle Formalitäten geklärt. In zwei Wochen wird der blaue Bus wieder in ihr Dorf kommen und ihr die Schriftstücke mit den Geburtsurkunden ihrer Kinder bringen.