Gesundheitssystem
Udo Ludwig über Missstände und Strukturmängel in deutschen Krankenhäusern
Nein, in ein Krankenhaus mag man sich nach der Lektüre dieses Buches nicht begeben. Eher stellt sich das Bedürfnis ein, medizinische Einrichtungen weiträumig zu meiden - denn der Journalist Udo Ludwig hat beunruhigende Geschichten über sie zusammengetragen. In "Tatort Krankenhaus. Wie Patienten zu Opfern werden" erzählt er von den Erfahrungen vieler Menschen, denen in Krankenhäusern und Arztpraxen Schreckliches widerfahren ist, die aufgrund von Strukturmängeln kranker nach Hause gekommen sind als sie je waren, lebenslang unter den Spätfolgen von Behandlungsfehlern leiden oder sie gar mit dem Leben bezahlt haben.
Der "Spiegel"-Journalist zeichnet das Bild eines Gesundheitssystems in der Krise, in dem das Personal überlastet und das Eingeständnis von Fehlern selten ist. Er will, so schreibt er, "Aufklärung betreiben über das, was schief läuft im Krankenhaus" und dazu beitragen, "die Diskussion über diese Missstände zu beleben, um die Sicherheit zu verbessern". Was Ludwig nicht will, ist mit Horrorgeschichten "Ängste vor unserem Gesundheitssystem" zu schüren - doch leider ist es genau das, was er tut.
Keine Frage: Jeder der geschilderten Fälle ist tragisch und furchtbar, sowohl für die betroffenen Patienten als auch für deren Angehörige und Freunde. Dass Klaus-Michael E. aus Hamburg mehrere Tage lang nicht wegen seines Aortenrisses operiert wird, schreckliche Schmerzen leidet und schließlich auf dem Operationstisch verblutet, ist ein Skandal. Dass der sechsjährige Sven aus Niedersachsen wegen eines fehlkonstruierten und defekten Ports an einem Venenkatheter nur knapp überlebt hat, ist beinahe eine Katastrophe. Und es ist ein Unding, dass Sylvia Deinert aus Geesthacht 16 Jahre lang vor Gericht um eine Entschädigung für eine falsch eingesetzte Knieprothese streiten musste. Dies alles sind schlimme Fälle, in denen Einzelne oder das gesamte System versagt hat - aber es sind glücklicherweise Einzelfälle.
Fast 150.000 Ärzte arbeiten in deutschen Krankenhäusern - und die meisten davon arbeiten gut. Man hört oder liest aber - auch in Ludwigs Buch - wenig oder nichts von ihnen. Zu zweifelhaftem Ruhm gelangen Pfuscher und Blender wie der Chirurg Christoph Broelsch, der in Essen Organe transplantierte und seine Patienten dafür zu "Spenden" nötigte. Mehrere Seiten sind auch dem Arzt Dietrich Grönemeyer gewidmet, der sich in diversen Talkshows und mit zahlreichen Veröffentlichungen als "Medizin-Papst" geriert. Dass seriöse Mediziner dem Röntgenarzt "Populismus und Geldschneiderei" vorwerfen und er der Fachwelt "auf die Nerven" geht, wie Ludwig kolportiert, mag stimmen - ein Beleg für die Krisenhaftigkeit des deutschen Gesundheitswesens ist es nicht.
Ludwig legt zweifellos den Finger in die Wunden des Systems. Aber die wichtigen Kritikpunkte gehen unter in der Flut der Einzelbeispiele, bei denen trotz aller Tragik dennoch ein Hinweis wichtig wäre: Menschen machen Fehler. Die Vehemenz, mit der Ludwig in seinem Buch selbstgerechte und inkompetente Ärzte an den Pranger stellt, mag berechtigt sein - aber sie vermittelt auch den Eindruck, der Journalist erwarte im Grunde, dass Ärzte die besseren Menschen sind. Daraus, dass sie es nicht sind, kann man aber nicht das Versagen der gesamten medizinischen Versorgung ableiten. Ebenso wie es gute und schlechte Lehrer, faule und fleißige Politiker, kompetente und inkompetente Anwälte gibt, gibt es unter den insgesamt mehr als 350.000 deutschen Ärzten viele, die ihren Job gut erledigen und viele, die es nicht tun.
Man würde sich beim Lesen weniger Einzelgeschichten und dafür mehr Fakten wünschen, etwa dazu, wie die Klärung der von Patientenorganisationen auf 400.000 geschätzten Kunst- und Behandlungsfehler erfolgt und in welchem Maß Patienten entschädigt werden. Doch wirklich hilfreich wird Ludwigs Buch erst zum Schluss. Im fünften Kapitel "Was sich ändern muss" macht er konkrete Verbesserungsvorschläge, die letztlich nicht primär zur Vermeidung von Fehlern als vielmehr zu einem angemessenen Umgang mit misslungenen Operationen oder Behandlungen führen können: Würden Behandlungsfehler zugegeben und Ärzte eingestehen, dass sie nicht fehlerfrei sind, würde zum einen das überkommende Stereotyp von den "Göttern in weiß" verschwinden und es könnten zum anderen in einem nächsten Schritt in Krankenhäusern Programme zur Vermeidung von Behandlungsfehlern installiert werden.
Bedenkenswert sind auch die Vorschläge des ehemaligen Staatsekretärs im Bundesjustizministerium, Hansjörg Geiger, die sich am Schluss des Buches finden. Geiger, der ehrenamtlich für die "Alexandra-Lang-Stiftung für Patientenrechte" aktiv ist, schlägt die Einrichtung eines Patientenentschädigungsfonds vor, aus dem Geschädigte Hilfe erhalten sollen, auch wenn die Haftung des Arztes oder des Krankenhauses nicht eindeutig zu beweisen ist. Denkbar sei auch eine "Heilbehandlungsrisikoversicherung", an die Patienten sich im Schadensfall wenden und die die Verantwortlichen in Regress nehmen solle.
Ludwigs Buch macht bei aller Einseitigkeit dennoch eines klar: Ein neues Selbstverständnis ist nötig - auf beiden Seiten. Weder dürfen Ärzte sich für unfehlbar und es für eine Zumutung halten, ihr Tun vor Patienten zu rechtfertigen, noch dürfen Patienten sich selbst entmündigen und die Verantwortung für ihre Gesundheit gänzlich abgeben.
Tatort Krankenhaus.
Wie Patienten zu Opfern werden.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008; 280 S., 16,95 ¤