Sterbehilfe
Wolfgang Prosinger begleitete einen Menschen, der sich für den Freitod entschied
Das war die größte und schwerste Recherche meines Lebens." So urteilt der Berliner Journalist Wolfgang Prosinger über die Zeit, in der er die erschütternde Geschichte für sein Buch "Tanner geht" recherchierte - und man glaubt es ihm. Denn Prosinger hat einen Menschen begleitet, der seinen Tod plante und diesen Plan auch in die Tat umsetzte.
In Prosingers Buch heißt dieser Mensch Ulrich Tanner. Das ist nicht sein richtiger Name, der Autor hat ihn erfunden, um seinen Gesprächspartner und dessen Freunde zu schützen. Was er aber in seiner Reportage schildert, ist echt: Ulrich Tanner ist 50 Jahre alt, er hat Krebs, Parkinson und Aids. Diese Krankheiten verursachen ihm derart starke Schmerzen, dass er so nicht mehr weiterleben will. Er bittet im Herbst 2007 den Schweizer Verein Dignitas um "die Hilfe einer Freitodbegleitung": "Ich habe nur noch den Wunsch, würdig gehen zu können."
Im Dezember 2007 schreibt ihm der Verein, er werde seinen Wunsch erfüllen. Drei Monate später trinkt Tanner in Zürich eine Natrium-Pentobarbital-Lösung und stirbt: friedlich und - so bestätigt er es einige Minuten zuvor noch einmal - "aus eigenem Entschluss und Willen".
Wolfgang Prosinger hat Tanner in den Monaten vor seinem Tod begleitet. Über das Internet-Forum von Dignitas hatten beide sich kennen gelernt. Der Schwerkranke erklärte sich bereit, den Journalisten an seinen letzten Monaten teilhaben zu lassen und ihm seine Geschichte zu erzählen. Prosinger tut dies auf beeindruckende Weise. Er zeichnet einfühlsam und doch mit Distanz das Bild eines Menschen, der wohl nicht ganz unkompliziert aber liebenswert war und unbedingt wollte, dass die Leute verstehen, "wie einer zu so einer Entscheidung kommen könne".
Im Gespräch mit "Das Parlament" erklärt Wolfgang Prosinger sein Anliegen, "die Geschichte eines Leidens nicht abstrakt zu erzählen, sondern immer unter der Fragestellung, was dieses Leiden ganz konkret für den bedeutet, der sich in der Situation befindet". Im Laufe seiner Recherche habe sich seine Einstellung zur "Sterbehilfe insgesamt" verändert. Auch wenn er diesen "radikalen und rigorosen" Weg für sich selbst nicht wählen würde, sei er doch zu der Überzeugung gelangt, "dass man Menschen wie Tanner, die unerträglich leiden, auch in Deutschland diesen Notausgang gewähren sollte".
Prosinger erzählt in seinem Buch nicht nur die Geschichte Ulrich Tanners, er unterbricht den Bericht über dessen schwierigen Weg immer wieder mit Einschüben zur gesellschaftlichen Diskussion um die Sterbehilfe, den Freitod und den Verein Dignitas. Er wisse, räumt der Journalist im Gespräch ein, dass man ihm eine zu starke Sympathie für den nicht unumstrittenen Verein vorhalten könne. "Aber ich habe recherchiert, war wieder und wieder vor Ort und habe mit den Leuten gesprochen." Den Verdacht, dass es bei Dignitas finanzielle Ungereimtheiten gebe, könne er letztlich nicht widerlegen, er sei aber davon überzeugt, dass Dignitas mit Sterbehilfe kein Geld verdiene.
Immer wieder bringt Prosinger das Dilemma seiner Reportage, das Dilemma Ulrich Tanners und das Dilemma unserer Gesellschaft eindrucksvoll auf dem Punkt, wenn er zwei Denksysteme beschreibt: das der Gesunden, Außenstehenden, die sagen, es sei um die "Würde des Sterbens geschehen", wenn dafür Geld gezahlt werde - und das der Kranken, Todgeweihten, die sagen, "ich zahle gerade deshalb, damit ich in Würde sterben kann, bei klarem Bewusstsein und ohne Schmerzen".
Wolfgang Prosinger plädiert eindrücklich dafür, bei der Debatte um Sterbehilfe und Freitod nicht nur über abstrakte Werte und Prinzipien einerseits und den konkreten Einzelfall des Leidens andererseits zu sprechen, sondern beide in den Blick zu nehmen und sich erst dann ein Urteil zu bilden. Es wäre ein wirklich großer Verdienst seines Buchs, wenn dies in Zukunft tatsächlich gelingen würde.
Tanner geht. Sterbehilfe. Ein Mann plant seinen Tod.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2008; 175 S., 16,90 ¤