Die Auseinandersetzung mit Geschichte im allgemeinen und der Geschichte des Nationalsozialismus im besonderen betreiben deutsche Jugendliche offenbar mit großer Unlust. Ihre Motivation, etwas über den Holocaust zu lernen war Mitte der 90er-Jahre im Vergleich etwa zu jungen Slowenen, Briten oder Schweden deutlich niedriger. Dieses Ergebnis einer 1997 erschienenen, international angelegten Studie über den Umgang europäischer Jugendlicher mit Geschichte und ihre konkreten historischen Kenntnisse und strukturellen Haltungen zum geschichtlichen Verlauf, verwundert. Woher kommt dieses Desinteresse, wo doch die öffentliche Debatte über die NS-Verbrechen anhaltend intensiv ist? Ist es vielleicht gerade ein Übermaß an öffentlicher Aufmerksamkeit, das den Jugendlichen das Interesse an historischen Zusammenhängen raubt? Oder gar die Folge einer ungenügenden didaktischen Umsetzung in der Schule? Und wenn ja, wie kann die Geschichte des Holocausts und das unvorstellbare Ausmaß dieser Massenvernichtung dann sinnvoll vermittelt werden? Fragen, die der Erziehungswissenschaftler und Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt/M., Micha Brumlik, in seinem aktuellen Buch stellt.
Dabei untersucht er die institutionelle Lehrbarkeit von Geschichte ebenso wie die Bedingungen, unter denen historisches Verstehen zur Vermittlung zentraler Werte wie Toleranz und gegenseitiger Achtung führt. Von Hegel bis Habermas haben schon viele Philosophen, Soziologen und Historiker diese Frage gestellt. Brumlik sieht die Antwort in einer so genannten "human rights education", in einem "moralischen Lernen" also: "So wie das Grundgesetz aus der Erfahrung des Nationalsozialismus die Prinzipien einer moralisch verantworteten Demokratie entfaltet, wird es demnach in Zukunft darauf ankommen, auf und aus der Erziehung über Auschwitz eine Bildung zu den Menschenrechten zu entwickeln."
Wie das gehen kann, darauf weiß Brumlik aber keine Antwort. Vielmehr zerstreut er die Hoffnungen, dass wertgebundene Geschichtsbetrachtung tatsächlich Erfolg haben kann. Besonders bei Jugendlichen mit rechten Einstellungsmustern führten Besuche in Gedenkstätten mit sozialpädagogisch geführten Exkursionen "im Bereich des historischen Lernens nicht zu vertieften, haltbaren Erkenntnissen, in dem der Handlungen und Einstellungen nicht zu nennenswerten, strukturellen Änderungen".
Die Schwierigkeiten historisch-politischer Bildung seien weder durch wissenschaftliche Aufklärung noch durch ritualisiertes Gedenken zu überwinden. Dennoch hält Brumlik am moralischen Gebot entsprechender didaktischer Bemühungen fest. Heißt also, Gedenken ist unverzichtbar, nur leider wirkungslos?
Bedauerlicherweise lässt Brumlik den Leser mit diesem Dilemma allein. Denn so ambitioniert das Buch daherkommt, so sehr verfangen sich die ausschweifenden Diskurse in Konjunktiven und generalisierenden Feststellungen. Die wichtigsten Probleme zeitgeschichtlicher Bildung werden zwar klar benannt und durch Untersuchungen aus der Entwicklungspsychologie, der Verhaltensforschung und der Psychoanalyse umfangreich belegt, doch fehlt es an einem eigenen didaktischen Konzept, an einer grundlegenden Idee, wie die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit eigentlich lösbar ist. So werden am Ende mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.
Micha Brumlik
Aus Katastrophen lernen?
Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht.
Philo Verlag, Berlin / Wien 2004; 192 S., 12,90 Euro