Arznei ist Nahrung und Nahrung ist Arznei." Schon vor mehr als 2000 Jahren kam der griechische Arzt Hippokrates zu dieser Erkenntnis. Für die moderne Ernährungsforschung ist sie immer noch brandaktuell. Denn die Frage, was genau eine "gesunde" Ernährung ausmacht, ist bis auf die allgemeine Empfehlung, dass es ratsam sei, sich "ausgewogen" zu ernähren, im Detail immer noch nicht beantwortet. Im Gegenteil, der Verbraucher wird durch immer neue Ratschläge verwirrt. Mal soll das Heil darin liegen, weniger Salz zu sich zu nehmen, dann weniger Zucker, weniger Fett oder weniger Kohlehydrate. So lauteten abwechselnd die Empfehlungen der letzten Jahre. Wem soll der Ernährungsbewusste glauben? Und können überhaupt für alle Menschen die gleichen Ernährungsrezepte gelten?
Spätestens als Forscher entdeckten, dass es im Hinblick auf die Verträglichkeit von Lebensmitteln wie zum Beispiel der Milch erhebliche Unterschiede bei verschiedenen Völkern geben kann - 80 bis 90 Prozent der Nord- und Westeuropäer vertragen sie, 90 Prozent der Asiaten und Afrikaner nicht - stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen genetischer Veranlagung und Ernährung. Auf diesem Feld wächst seit einigen Jahren ein Forschungszweig heran, der die klassische Ernährungswissenschaft mit der Molekulargenetik und der Biochemie zusammenführt: die so genannte "Nutrigenomik". Sie versucht, Hippokrates' allgemeine Beobachtung auf molekularer Ebene zu belegen: Wie wirken sich die Inhaltsstoffe unserer Nahrung auf genetischer Ebene aus? Welche Rolle spielt die individuelle Veranlagung? Wie lässt sich auf dieser Grundlage die Gesundheit fördern?
Dass Umwelteinflüsse das Genom nachhaltig verändern können, daran lassen Forschungen keinen Zweifel. Einen besonders augenfälligen Beweis lieferten 2003 zwei Forscher des Krebszentrums in Durham, North Carolina. Sie fütterten Mäuse, die ein gelbliches Fell hatten, mit einem Gemisch aus Folsäure, B12 und anderen Vitaminen. Die Folge war, dass dem Nachwuchs, den diese Tiere zur Welt brachten, ein braunes Fell wuchs. Die Vitamine hatten offenbar die Aktivität jener Gene beeinflusst, die für die Fellfarbe zuständig sind. Die braune Färbung war dauerhaft und wurde auch an die nächste Mausgeneration weiter vererbt.
Für die Nutrigenomik tut sich damit ein riesiger Forschungshorizont auf. Der Traum ist ein individueller Speiseplan, der genetische Veranlagungen berücksichtigt und es über eine maßgeschneiderte Ernährung möglich macht, Krankheiten zu lindern oder sie gar nicht erst ausbrechen zu lassen. Selbst Volksleiden wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislaufschwäche hofft man auf diese Weise vorbeugen zu können. Das Potenzial, das in dieser Vision schlummert, hat auch die Politik entdeckt. Mit insgesamt 23 Millionen Euro fördert die EU die Nutrigenomikforschung über sechs Jahre an 22 Instituten in Europa, die sich in der NuGo (The European Nutrigenomics Organization) zusammengeschlossen haben.
Schnelle und praktisch verwertbare Ergebnisse sollte man allerdings nicht erwarten. "Wir stehen ganz am Anfang", betont der Biochemiker José Ordovas von der Tufts University, Boston. Die Nutrigenomik habe prinzipiell den Beweis geliefert, dass es eine Wechselwirkung zwischen Genen und Ernährung gibt, aber mehr noch nicht. Dessen ungeachtet wittern private Labors in den USA ihr Geschäft. Im Internet oder in Supermärkten ködern sie Kunden mit Slogans wie "Ernähren Sie ihre Gene richtig" und bieten einschlägige Tests an. Das Labor verspricht, eine Anzahl bekannter Risikogene zu prüfen - zwischen sechs und 19 -, von denen man vermutet, dass sie im Zusammenhang mit bestimmten Krankheiten stehen, und schickt dem Kunden dann eine Nahrungsempfehlung zu.
Das sei ungefähr so, als schieße man "Pfeile in die Dunkelheit", kommentiert José Ordovas. Und sein Kollege, der niederländische NuGo-Koordinator, Ben Van Ommen warnt, konkrete Diäthinweise könne man seriöserweise bislang nur für einige seltene Erbkrankheiten geben.
Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass an der Entstehung von Krankheiten in der Regel nicht nur ein Gen beteiligt ist, sondern viele. Allein 200 sollen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen involviert sein. Die Versuchsanordnungen der Nutrigenomik werden dadurch immens komplex. Belastbare Studien, die die molekularbiologische Wirkung einzelner Lebensmittel belegen, gibt es kaum. Wie schwierig selbst bei einer einfachen Versuchsanordnung die Interpretation der Ergebnisse ist, zeigt eine Studie von José Ordovas.
Er setzte 48 Männer und Frauen für ein Jahr auf eine kalorienarme Diät. Einige der Probanden speckten erwartungsgemäß ab, verloren rund 20 Pfund, andere hingegen nahmen trotz Diät kaum ab. Die Forscher um Ordovas machten dafür eine Variante des Perilipin-Gens verantwortlich, das den Fetthaushalt der Zelle beeinflusst. In einer weiteren Studie untersuchte ein Kollege Ordovas' normalgewichtige Frauen, die essen konnten, so viel sie wollten, ohne deswegen zuzunehmen. Auch bei ihnen fand sich die selbe Genvariante, die eine Gewichtszunahme offenbar verhindern kann. Für die beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Ergebnisse fanden die Forscher folgenden Erklärungsansatz: "Diese Perilipin-Variante scheint wie ein Puffer zu wirken gegen Veränderungen in der Art und Weise, wie der Körper Energie aus Nahrung speichert und verbrennt." Schlanke nehmen nicht zu, Übergewichtige nicht ab. Mit diesen Forschungen haben Nutrigenomiker eine Spur zur Erklärung bestimmter Formen von Übergewicht gelegt. Direkte Handlungsempfehlungen lassen sich aus solchen Grundlagenforschungen aber noch nicht ableiten. Britische Forscher mahnten denn auch bei einem Symposium im Februar 2004, man müsse vorsichtig sein und dürfe keine unrealistischen Erwartungen wecken: "Wir dürfen die Öffentlichkeit nicht verwirren, die Nahrungsempfehlungen ohnehin schon misstraut."
Elke Biesel arbeitet als Redakteurin beim "Kölner Stadt-Anzeiger".