Im Jahr 1976, ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten gentechnischen Experiments, gründete der Universitätsprofessor Herbert W. Boyer mit dem Venture Capitalist Robert A. Swenson das Unternehmen Genentech in San Francisco. Der Grundstein für den Biotech-Boom in den USA war gelegt. Noch heute sind die Gegenden um San Francisco und Boston die eigentlichen Hochburgen der modernen Biotechnologie weltweit. Die junge Branche, die bis heute überwiegend aus kleinen und mittleren Unternehmen besteht, fand in den USA ideale Rahmenbedingungen vor - eine traditionell enge Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Wirtschaft und Unternehmen, die bereit waren, Geld in das Wagnis neuer Geschäftsfelder zu stecken. Eine Kooperation mit der Industrie war damals bei deutschen Universitäten noch eher verpönt. Außerdem fehlten Geber von Venture Capital. Zudem wurden die deutsche Debatte und auch die in anderen europäischen Ländern von Ängsten vor der neuen Technologie dominiert. In den traditionellen großen Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie aber fiel es der modernen Biotechnologie schwer sich durchzusetzen. Damit konnten die USA beim Einsatz der Gentechnik zur Entwicklung von neuen Therapieverfahren und Medikamenten in den 80er-Jahren einen Vorsprung aufbauen, den Europa bis heute nicht eingeholt hat.
Dieser Aufholprozess begann in Deutschland erst in den 90er-Jahren, eigentlich erst nach der Novellierung des bis dahin sehr strengen deutschen Gentechnikgesetzes im Jahr 1993. Seit Mitte der 90er-Jahre fördert der Staat die Branche verstärkt. Insbesondere der 1995 gestartete Bio-Regio-Wettbewerb des Bundesforschungsministeriums führte zu einer Welle von Firmengründungen und ersten Börsengängen von Biotechnologie-Unternehmen.
Deutschland nimmt heute im Biotechbereich mit rund 350 Unternehmen, die sich überwiegend um Biotechnologie kümmern, eine Spitzenstellung in Europa ein. Doch die hohen Erwartungen der 90er-Jahre konnten bislang nicht eingelöst werden. Schätzungen, dass die junge Branche im Jahr 2000 bis zu 40.000 Mitarbeiter beschäftigen würde, haben sich bis heute nicht erfüllt. Vielmehr durchlief die Branche seit der Jahrhundertwende einen schmerzhaften Konsolidierungsprozess und schreibt weiterhin unter dem Strich rote Zahlen. Allerdings sind die Verluste seit 2003 erstmals rückläufig und die Zahl der Unternehmen, die Umsatz und sogar Gewinne machen, wächst wieder. 2004 verzeichnete die Branche erstmals seit dem Börsencrash 2000 wieder ein Umsatzwachstum von sieben Prozent. 84 Prozent der Unternehmen äußerten die Absicht, im laufenden Jahr Mitarbeiter einzustellen. Nach Schätzungen der Deutschen Bank Research wird die Zahl der Beschäftigten bis 2010 um 60 Prozent steigen.
Mit dem Krebsmedikament Eligard der Firma Med-Gene hat erst ein Produkt eines deutschen Biotech-Unternehmen eine Zulassung erhalten. Immerhin wächst die Zahl der Produkte, die sich in der Entwick-lung befinden. Derzeit sind es rund 200. Bei den meis-ten Unternehmen liegen die Umsätze, die sie erzielen, jedoch immer noch unter den Summen, die sie für Forschung und Entwicklung ausgeben. Dabei heben die Fachleute von Ernst & Young in ihrem aktuellen Branchenbericht hervor, dass sich erfreulicherweise immer mehr Unternehmen auf wenige Erfolg versprechende Produkte konzentrieren.
Von zentraler Bedeutung ist für die kleinen Biotech-Unternehmen - rund vier Fünftel haben weniger als 30 Mitarbeiter - die Zusammenarbeit mit den großen pharmazeutischen Unternehmen. In den USA hat in den vergangenen Monaten ein wahrer Run der Pharmariesen, die zum großen Teil selbst in der Biotechnologie forschen, auf die Branche begonnen. Der britische Pharmakonzern Astra-Zeneca zahlte bis zu einer Milliarde Dollar für die Rechte an einem neuen Herzmittel der US-Firma Atherogenics. Roche, Pfizer und Novartis stellten jeweils mehr als eine halbe Milliarde Dollar bereit, um sich Zugang zu neuen Technologien und Wirkstoffen aus dem Biotechsektor zu sichern. Und die deutsche Bayer AG sagte Anfang des Jahres fast 400 Millonen Dollar für die Rechte an einem neuen Mittel gegen Blutgerinnsel zu. Grund für das wachsende Interesse an den kleinen Biotechfirmen ist, dass die Forschungspipeline bei vielen großen Konzernen leer ist und die Patente vieler erfolgreicher Präparate in den nächsten Jahren auslaufen. Auch deutsche Biotechunternehmen profitieren davon, allerdings in weit aus geringerem Umfang. Dennoch sagen Experten der deutschen Branche für 2006 ihr bestes Jahr nach dem Börsencrash voraus, vorausgesetzt - die klinischen Studien ihrer in der Entwick-lung befindlichen Produkte laufen nach Plan.
Der große Teil der deutschen Biotechunternehmen befasst sich mit der so genannten Roten Gentechnik, also der Entwicklung gentechnischer Herstellungsverfahren für Medikamente oder neuer Arzneiwirkstoffe. Im Vergleich dazu spielt die Agro-Gentechnik oder die Grüne Gentechnik, also der Einsatz gentechnischer Verfahren in der Landwirtschaft, eine deutlich geringere Rolle. Weniger als 300 Arbeitsplätze bei 25 Labor- und Zuchteinrichtungen zählt der jüngste Report der Unternehmensberatung Ernst & Young.
Auch der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen (GVO) in der deutschen Landwirtschaft kommt nicht voran. Außerhalb Europas hat der Anbau von Genmais und Gensoja, die vor allem als Rohstoff für die Industrie und als Futtermittel eingesetzt werden, seinen Siegeszug längst angetreten. Im vergangenen Jahr wurden nach der neuesten Statistik der Internationalen Biotechnologie Agentur ISAAA auf 90 Millionen Hektar in 21 Ländern Genpflanzen angebaut. Seitdem die ersten gentechnisch veränderten Pflanzen vor rund zehn Jahren angebaut wurden, ist die Anbaufläche um das Fünfzigfache gewachsen. Laut ISAAA nutzen inzwischen knapp 8,5 Millionen Landwirte transgenes Saatgut. Angeführt wird die Riege der GVO anbauenden Staaten weiterhin von den Industrie- und Schwellenländern (zwei Drittel der Anbaufelder). Dagegen stagniert der Anbau genveränderter Pflanzen in Deutschland bei 345 Hektar. Dort wird transgener Mais im Erprobungsanbau gestestet. Andere europäische Staaten wie Österreich und die Schweiz haben sich generell gegen den Anbau von Genpflanzen entschieden. Aber auch die deutsche Landkarte ist mit so genannten "gentechnikfreien Regionen" überzogen.
Grund für die Zurückhaltung ist nicht nur die kritische Haltung der deutschen Bevölkerung und das noch strenge deutsche Haftungsrecht für Verunreinigung konventioneller Ernten durch den Genanbau. Viele Experten halten die kleinteilige Landwirtschaft vor allem in den alten Bundesländern für ungeeignet, gentechnisch veränderte Pflanzen wirtschaftlich rentabel anzubauen. Deutschlands Landwirtschaft sollte nach ihrer Ansicht erst gar nicht versuchen, mit den großen Anbauländern wie den USA, Brasilien und Argentinien zu konkurrieren. Es sollte stattdessen wie Österreich auf eine qualitativ hoch stehende konventionelle Landwirtschaft und den Ökolandbau setzen. Die großen Promotoren der Grünen Gentechnik sitzen in Deutschland daher vor allem in den neuen Bundesländern mit ihren aus der DDR-Zeit überkommenen Großbetrieben. Hier lässt sich Genanbau am ehesten wirtschaftlich konkurrenzfähig betreiben.
Nach Ansicht der ISAA zeichnet sich jedoch auch in Europa eine Wende ab. Zu Spanien, das bislang die größten Anbauflächen in Europa hatte, hat sich im vergangenen Jahr die Tschechische Republik gesellt. Auch in Frankreich und Portugal wurden 2005 nach mehrjähriger Unterbrechung wieder gentechnisch veränderte Nutzpflanzen angebaut. Dagegen setzt das Beitrittsland Polen auf den Ökolandbau.
Anders als die Grüne Gentechnik ist die Graue oder Weiße Gentechnik längst unumstritten. Die Nutzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen zur Herstellung von Enzymen oder Feinchemikalien für industrielle Zwecke hat zuerst in der Waschmittelherstellung Karriere gemacht. Die Waschleistumg verbessernde Enzyme haben die Firma Henkel zum Weltmarktführer im Waschmittelbereich gemacht. Europa gilt hier anders als bei der Roten Gentechnik als Vorreiter. Es wird auch der "Grand old man" der Weißen Biotechnologie genannt. Welche Umsätze mit Weißer Gentechnik gemacht werden, lässt sich schwer beziffern, da große Konzerne den Anteil dieser Gentechnik an der Produktion nicht gesondert ausweisen. Nach Angaben von Mc Kinsey Düsseldorf werden heute bereits weltweit bei fünf Prozent aller chemischen Substanzen biotechnologische Verfahren eingesetzt. Das entspricht einem Jahresumsatz von rund 35 Milliarden Euro. Bis 2010 soll dieser Anteil auf zehn bis 20 Prozent steigen. Das würde laut Mc Kinsey einem Jahresumsatz von bis zu 250 Milliarden Euro entsprechen. Schon heute nutzt die chemische Industrie rund 130 Verfahren, die auf biotechnologischen Mechanismen aus der Weißen Gentechnik beruhen. 22 kleine und mittlere Unternehmen befassen sich hierzulande ausschließlich mit Weißer Biotechnologie. Sie erzielten 2004 mit 400 Mitarbeitern einen Umsatz von 20 Millionen Euro. Ein Drittel von ihnen schreibt schwarze Zahlen. Diese kleinen Unternehmen konzentrierten sich vor allem auf die Entwicklung neuer Verfahren und die Entdeckung neuer Biokatalysatoren und sind eng mit den führenden Anwendern in der Großindustrie vernetzt.
Als historisch gewachsener Standort der chemischen Industrie hat Deutschland nach Einschätzung von Ernst & Young gute Chancen seine weltweit führende Stellung bei der Weißen Gentechnik zu behaupten. Dabei sind die Grenzen zwischen Weißer und Grüner Gentechnik fließend. So arbeitet derzeit BASF an der Entwicklung einer genveränderten Kartoffel, die aufgrund ihrer veränderten Stärkezusammensetzung den Produktionsprozess in der Papier- und Klebstoffindustrie verbessern soll.
Peter Thelen ist Redakteur beim "Handelsblatt".