In der menschlichen DNA ist das größte Geschichtsbuch versteckt, das je geschrieben wurde", sagt der Leiter des Projekts, der Anthropologe Spencer Wells. Anhand von so genannten genetischen Markern können Spencer und seine Kollegen dieses Geschichtsbuch entschlüsseln. Genetische Marker sind Teilstücke der DNA, die weitgehend unverändert von Generation zu Generation weitergegeben werden. Bei den Männern ist es das Y-Chromosom, von dem bekannt ist, dass es nur an die Söhne weitervererbt wird. Die weibliche Linie hingegen kann über die so genannte mitochondriale DNA zurückverfolgt werden. Diese Zellorganellen werden über die Eizelle an den Nachwuchs weitergegeben, stammen also ursprünglich fast immer von der Mutter ab. Lediglich ein Fall ist bisher überhaupt bekannt geworden, wo ein Mensch sowohl vom Vater als auch von der Mutter die Mitochondrien mitbekommen hatte.
Anhand von einigen wenigen, zumeist unbedeutenden DNA-Veränderungen, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte ins Genom eingeschlichen haben, können so nachträglich die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen analysiert werden. Je mehr Genmarker in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen übereinstimmen, desto enger sind die historischen Verwandtschaftsbeziehungen. So konnte bereits anhand eines genetischen Markers auf dem Y-Chromosom M130 nachgewiesen werden, dass die Aborigines in Australien und Bewohner der südasiatischen Region auf dem menschlichen Stammbaum ganz nah beieinander sind. Diese ansonsten seltene Genveränderung war nur bei Bewohnern, die aus diesen Regionen kamen, aufzufinden. Es wird daher vermutet, dass die ersten Menschen, die vor mehreren zehntausend Jahren Australien erreichten, aus dem Süden Asiens über das Meer kamen.
Die Forscher gehen davon aus, dass die Erbsubstanz bei den vorwiegend isoliert lebenden indigenen Völkern aufgrund der geringen oder gar ganz fehlenden Vermischung mit anderen Bevölkerungsgruppen weitgehend unverfälscht geblieben ist. Anhand ihrer genetischen Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Ethnien glauben die Forscher, die Wanderungsbewegungen der Menschheit auf der Erde nachzeichnen zu können. Doch die Zeit drängt. Denn die Entschlüsselung des "genetischen Geschichtsbuches" wird nach Ansicht der Populationsgenetiker immer schwieriger. Schuld sei nicht nur die Globalisierung, die durch eine zunehmende Vermischung des menschlichen Genpools dazu beitrage, dass die Spuren unleserlich werden. Auch seien viele kleinere indigene Völker und Stämme vom Aussterben bedroht. Um die Herkunft und Wanderungsbewegungen der menschlichen Genmarker untersuchen zu können, sind die Populationsgenetiker aber gerade auf die biologische Vielfalt der Menschen angewiesen. Denn sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den Genpoolen der Ethnien ermöglichen überhaupt erst die Aufstellung eines genetischen Stammbaums.
Für das Einsammeln der Blutproben hat das Genographic Project zehn renommierte Populationsgenetiker als regionale Kooperationspartner gewonnen. Verteilt über alle Kontinente sollen sie vor Ort auch die genetische Analyse der Blutproben übernehmen. Die anonymisierten Ergebnisse werden dann an eine zent-rale Datenbank in den USA für die weitere Auswertung weitergeleitet. Zuständig für die Aufbereitung und Verarbeitung der umfangreichen Datensammlungen ist der IBM-Konzern, der zu den Initiatoren des Projekts gehört. Der IBM-Konzern, der sich in den vergangenen Jahren schon verstärkt in der Bioinformatik engagiert hat, stellt die Hard- und Software zur Verfügung. Die Kosten für das Genographic Project sind insgesamt auf 40 Millionen Dollar veranschlagt worden.
Mitmachen bei dem Projekt sollen auch ganz "gewöhnliche" Menschen. Für 99,99 Dollar können Interessierte auf den Internetseiten der in zahlreichen Sprachen herausgegeben Zeitschrift "National Geographic" ein Testset bestellen, mit dem sie ihre genetischen Wurzeln feststellen lassen können. Nach Einsenden eines Speichelabstrichs versucht die auf genetische Genealogie spezialisierte US-Firma "Family Tree DNA" in Houston, die genetische Herkunft zu ermitteln. Über eine individuelle Codenummer kann das Ergebnis im Internet abgerufen werden. Die anonymisierten Daten werden auch bei der Auswertung des Gesamtprojektes berücksichtigt. "Jede Probe macht es leichter, den Stammbaum des Menschen zu vervollständigen und die geographischen Wurzeln des Einzelnen zu ermitteln", heißt es dazu auf den deutschen Webseiten der Zeitschrift. Die Beteiligung möglichst vieler Interessierter hat aber auch finanzielle Hintergründe. Denn durch den Verkauf des Testsets soll ein Teil der Projektkosten hereingeholt werden.
Vor allem bei der indigenen Bevölkerung selbst stößt das Genographic Project auf Kritik. Es handele sich dabei "um eine moderne Form des Kolonialismus", kritisiert Paul Reynolds vom Maori-Zentrum an der Auck-land Universität in Neuseeland das Vorhaben. Indigene Völker hätten bereits eine lange, von "den Ahnen übermittelte Geschichte ihrer Herkunft. Wir brauchen keine wissenschaftlichen Beweise unserer Abstammung", begründete Reynolds seine Ablehnung des Projekts im New Zealand Herald.
Unterstützung fand Reynolds im "Indigenous Peoples Council on Biocolonialism" (IPCB). Die Organisation wehrt sich schon seit Jahren dagegen, dass das überlieferte, traditionelle Wissen indigener Völker, aber auch ihr Genpool, zunehmend von Forschern und Unternehmen aus den reichen Industriestaaten für die Entwicklung neuer Produkte ausgebeutet werden. In einem vom IPCB verfassten Boykottaufruf gegen das Genographic Project wird das derzeit laufende Forschungsvorhaben mit dem Human Genome Diversity Project (HGDP) verglichen. Mit dem HGDP sollte vor mehr als zehn Jahren schon einmal der weltweite Versuch unternommen werden, Blutproben bei den indigenen Völkern einzusammeln. Hauptziel war seinerzeit, die große genetische Vielfalt der Menschen zumindest in Form von Blut- und Gewebeproben noch schnell zu sichern, bevor viele Ethnien für immer vom Erdball verschwunden sind.
Das HGDP sollte als internationales Projekt durchgeführt werden - unter der Schirmherrschaft der Human Genome Organization (HUGO), die die weltweite Sequenzierung des menschlichen Genoms organisiert hatte. Nachdem sich auch die UNESCO unter anderem wegen fehlender ethischer Standards gegen das HGPD ausgesprochen hatte, verschwand der Plan sehr schnell wieder von der Agenda. Beim HGPD, das von einigen Vertretern der indigenen Völker als Vampir-Projekt bezeichnet wurde, war zum Beispiel auch nicht auszuschließen, dass wirtschaftlich interessante Gene oder Gensequenzen als Patent angemeldet werden.
Bei den Zielen gebe es zwar einige Überschneidungen mit dem HGPD, "aber ansonsten gibt es große Unterschiede", versicherten die Initiatoren des Genographic Projects schon, als sie ihr Vorhaben der Öffentlichkeit vorstellten: So werde es keine medizinische Forschung geben. Die genetischen Daten würden nicht patentiert. Alle Informationen gehörten der Allgemeinheit und würden veröffentlicht. Trotz dieser Versprechen bleibt der IPCB jedoch misstrauisch. Für Debra Harry, Direktorin beim IPCB, ist das Genographic Project im Grunde nichts anderes als eine Neuauflage des HGPD. Sie fordert deshalb zum Boykott des Forschungsvorhabens auf.
Wolfgang Löhr ist Diplombiologe und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.