Rund eine Million Menschen leben im nördlichen Teil Schleswig-Holsteins, den Wissenschaftler des Kieler Uniklinikums zur PopGen-Sphäre erklärt haben. Das Kürzel steht für "Populationsgenetische Rekrutierung". "Wir beabsichtigen, alle an bestimmten Krankheiten leidenden Menschen im Untersuchungsgebiet zu kontaktieren und um Mitarbeit zu bitten", sagen die Projektmacher um Professor Stefan Schreiber. Der Magen-Darm-Spezialist hatte bereits 2002 auf einer Tagung des Nationalen Ethik-rats gefordert: "Wir wollen eine zentrale Biobank." Als größte in Deutschland ist PopGen seit Mai 2003 etabliert. Bis 2007 will das Bundesforschungsministerium über 2 Millionen Euro dazu beigesteuert haben.
"Mitarbeiten" - das bedeutet für Bürger, sich freiwillig 30 Milliliter Blut entnehmen zu lassen. Gelegenheit dazu bieten 41 Kliniken und 1.700 Arztpraxen, die potenzielle Probanden gezielt ansprechen. Die Röhrchen mit den Blutproben werden in die Kieler PopGen-Zentrale geschickt, wo sie bei minus 80 Grad Celsius gelagert werden. Aus der entnommenen Blutmenge lassen sich laut PopGen bis zu 1.000 Mikrogramm der Erbsubstanz DNA extrahieren und tiefgekühlt aufbewahren. Die DNA aus einer Probe könne für zahlreiche genetische Tests genutzt werden. Die Studienteilnehmer füllen außerdem einen umfangreichen Fragebogen aus. Ihre Antworten sollen mit Resultaten der Genanalysen verknüpft werden. Gefragt wird zum Beispiel nach Herkunft, Arbeit, Lebensgewohnheiten, Krankheiten und Medikamentenkonsum. Auskünfte über Familienmitglieder und ihre Erkrankungen werden ebenfalls erbeten.
Die "Rekrutierung" zielt auf Menschen mit weit verbreiteten Krankheiten, deren Ursachen vielfältig sind. Dazu zählen Darmkrebs, Gallensteine, Herzerkrankungen, Zahnfleischentzündungen, neurologische Leiden wie Epilepsie und Morbus Parkinson, Haut- und Atemwegsbeschwerden. Inzwischen sollen rund 30.000 Patientenproben in Kiel lagern.
Neben akut Erkrankten benötigen die PopGen-Forscher auch Versuchspersonen, die als gesund gelten: "Um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, müssen die Daten der Patienten mit denen einer Kontrollgruppe verglichen werden." Dafür baue man eine "populationsrepräsentative Stichprobe" auf. Erfasst werden sollen 7.200 Menschen, über 3.000 haben bereits Blut und Daten gespendet. Die Betroffenen wurden mit Hilfe von Einwohnermeldeämtern zufällig ausgewählt und anschließend von PopGen angeschrieben.
Ein persönlicher gesundheitlicher Nutzen wird keinem Studienteilnehmer versprochen. Der PopGen-Werbeflyer appelliert vielmehr an die Schleswig-Holsteiner, künftigen Generationen zu dienen. "Unsere Kinder", orakeln die Kieler Sammler, "können das Risiko, an Asthma, Herzinfarkt oder Krebs zu erkranken, schon von uns erben. Wenn die Mediziner diese Risikofaktoren in Zukunft frühzeitig erkennen, kann vielen Menschen geholfen werden." Die "Medizin von morgen wird anders sein", verheißt das Faltblatt: Sie werde "individuelle Vorsorgepläne" ermöglichen, "die den Ausbruch ererbter Krankheiten verhindern". Auch könnten "persönliche Therapien" entwickelt werden, "die exakt auf die Anlagen des einzelnen Patienten abgestimmt sind". Dass solche Visionen in diesem oder im nächsten Jahrzehnt Wirklichkeit werden können, erwartet Professor Schreiber indes nicht.
Das Nahziel der PopGen-Macher können Probanden im Merkblatt zur Einwilligungserklärung nachlesen: "Es ist der Zweck der Untersuchung, eine Risikoabschätzung für bestimmte genetische Erkrankungen in der ‚Durchschnittsbevölkerung' zu erstellen." Ermitteln könne man mit Hilfe des PopGen-Bestands zum Beispiel, wie häufig Varianten in einem bestimmten Herzkrankheitsgen in der Bevölkerung vorkommen. Gleichzeitig sei der Prozentsatz der Herzinfarktpatienten mit diesen Genvarianten quantifizierbar.
Einmal veröffentlicht, wären solche genetisch-epidemiologischen Abschätzungen allerdings auch für nicht-medizinische Zwecke nutzbar: Versicherungen könnten, mit Verweis auf Studienresultate, höhere Prämien für Angehörige von "Risikogruppen" mit verdächtigen Genveränderungen verlangen. Arbeitgeber könnten vermeintlich erblich belastete Beschäftigte aussortieren. "Derartige Gefahren" müssten frühzeitig erkannt und Diskriminierungen vermieden werden, warnt der schleswig-holsteinische Behindertenbeauftragte Ulrich Hase, der PopGen "sehr kritisch" sieht.
Problembewusst äußert sich auch Professor Schreiber: Gentestergebnisse über einzelne Personen dürften nicht offenbart werden, da Gesellschaft und Versicherer noch nicht in der Lage seien, verantwortlich damit umzugehen. PopGen gebe keine persönlichen Untersuchungsergebnisse an die Testpersonen heraus, und die gesammelten Proben und Daten von Patienten würden in Kiel unter Pseudonym aufbewahrt. Gleichwohl ist es zwingende Voraussetzung der verheißenen, auf molekulargenetische Hypothesen gestützten Therapien, dass Ärzte das persönliche Genprofil ihrer Patienten kennen müssen. Die rekrutierten Proben und Daten sollen mindestens 20 Jahre in Kiel aufbewahrt werden. Welche Forschungsprojekte im einzelnen stattfinden sollen, steht nicht im Merkblatt zur Einwilligung. Dabei dürfen, gemäß den Vorgaben des fördernden Ministeriums, auch "wissenschaftliche Kooperationspartner" PopGen als Ressource nutzen. Kostenfreien Zugang haben Teams, die im Rahmen des "Nationalen Genomforschungsnetzes" (NGFN) agieren, dem auch die Kieler "Biobanker" angehören.
Erklärtes Ziel des NGFN, das 2001 von der rot-grünen Bundesregierung gestartet wurde und bundesweit rund 300 Forschungsgruppen verbindet, ist die Suche nach genetischen Ursachen von Volkskrankheiten. Politisch gewünscht wird, dass Wissenschaftler und gewerbliche Biotechunternehmen eng kooperieren, um Forschungsergebnisse kommerziell zu verwerten und Produkte wie Diagnostika und Arzneien zu entwi-ckeln. 2004, nach Abschluss der ersten Förderphase, zog die damalige Forschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) eine Zwischenbilanz: Binnen drei Jahren seien im NGFN sieben Patente, 80 Patentanmeldungen, 1.500 wissenschaftliche Publikationen und - in Zusammenarbeit mit der Industrie - mehr als 90 Produktideen entstanden. Wirtschaftliche Potenziale hat PopGen durchaus im Blick: "Es kann sein", heißt es im Merkblatt zur Einwilligung, "dass im Rahmen zukünftiger Forschungsergebnisse Patente entstehen, die auf Erkenntnissen basieren, die aus Ihren Proben gewonnen wurden." Solche Patente seien Voraussetzung für die Entwicklung neuer Medikamente. "In diesem Fall", erklären die Sammler den Blutspendern vorsorglich, "besteht kein individueller Patentanspruch, basierend auf Ihrem individuellen biologischen oder genetischen Material."
Klaus-Peter Görlitzer ist freier Wissenschaftsjournalist in Hamburg.