Tartu ist die bedeutendste Universitätsstadt Estlands und gleichzeitig das Herz der bio- und gentechnologischen Forschung des Landes. Hier, in der Kleinstadt, die allein schon wegen ihrer Größe ein Spiegelbild des kleinen baltischen Staates ist, befinden sich auch die Büros und die Labore des estnischen Genomprojekts. Eine Handvoll Büroräume, ein kleines Forschungsinstitut im obersten Stockwerk eines etwas heruntergekommenen alten Gebäudes und einige hochmoderne Laborgeräte - daraus besteht die Infrastruktur des Prestigeprojektes. Und auch sonst ist das, was die estnischen Genforscher vorhaben, im internationalen Vergleich weder das Größte noch das Neuste.
Die Initiatoren des Projektes wollen die Gene der estnischen Bevölkerung sammeln, um so Aufschluss über den Zusammenhang von Genen, Krankheiten und die Wirkungsweise bestimmter Medikamente zu erhalten. Auf diese Art und Weise hoffen die Wissenschaftler, neue Medikamente zu finden und die Wirksamkeit der bestehenden zu verbessern. Professor Andres Metspalu, der das Projekt vor rund sechs Jahren initiiert hat, sagt: "Wenn wir neue Gene finden, die man mit Medikamenten gezielt behandeln kann, wäre der Nutzen enorm. Zehn Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes geht direkt in den Gesundheitsbereich, und wenn Sie darüber nachdenken, dass die Hälfte aller Medikamente völlig unwirksam sind, können Sie ausrechnen, wie viel Milliarden Euro verpulvert werden."
Noch ist die estnische Forscherszene in der Bio- und Gentechnologie eher klein. Es gibt nur eine Handvoll Firmen. Aber die Branche beschäftigt bereits mehr als halb so viele Menschen wie die Gentechnologieunternehmen in Deutschland, und das obwohl Estland nur 1,5 Millionen Einwohner zählt. Das estnische Genomprojekt soll diese Entwicklung weiter vorantreiben. Allerdings haben die Forscher im vergangenen Jahr einen Rückschlag erlebt. Zu Beginn 2005 brach die Finanzierung des Projektes zusammen. Dem estnisch-amerikanisches Risikoinvestor "e-gene" hatte es zu lange gedauert, bis vermarktungsfähige Ergebnisse vorlagen, also neue Medikamente. Als die Forscher nicht, wie es der Geldgeber forderte, schnell auf klinische Studien von Medikamenten umstellen wollten, drehte e-gene den Geldhahn zu. Das Projektteam musste die Arbeit für ein Jahr aussetzen. Eine Zeit lang stand die Gendatenbank sogar ganz auf der Kippe.
Jetzt hat sich die Regierung jüngsten Meldungen zufolge aber anscheinend dazu entschlossen, das Projekt komplett aus eigenen Haushaltsmitteln weiter zu finanzieren. Die Projektleitung soll der Universität von Tartu übergeben werden. Ein entsprechenden Regierungsbeschluss erwarten die Forscher Ende diesen Monats.
Estland ist nicht das einzige Land, das eine nationale Gendatenbank errichten will. Es gibt viele solcher Projekte. Das isländische ist dem estnischen wohl am ähnlichsten. Auch hier wollen die Forscher die gesamte Bevölkerung genetisch erfassen und die DNS zusammen mit den Familienstammbäumen und den Krankengeschichten analysieren. Das Ziel ist es ebenfalls, die Ursachen von Krankheiten und neue Medikamente zu finden. Aus diesem Grund hat es die isländische Regierung der Firma DeCode Genetics erlaubt, sämtliche Daten des öffentlichen Gesundheitssystems auszuwerten. Damit hat das private Unternehmen, das das Projekt 1998 ins Leben gerufen hat, Zugriff auf die Krankenblätter der gesamten Bevölkerung. Vor allem die Tatsache, dass sowohl die persönlichen Daten als auch die Blutproben einem privaten Investor gehören und kommerziell ausgebeutet werden sollen, gefällt vielen in Island allerdings nicht. 20.000 Isländer verweigern ihre Teilnahme.
Die Esten sind da weniger kritisch. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Teilnahme an dem Genomprojekt freiwillig ist und nicht automatisch erfolgt. Zum anderen ist das Projekt Teil eines nationalen, ökonomisch begründeten Fortschrittglaubens. Und genau deswegen ist das Projekt in Estland in gewisser Weise doch etwas Besonderes. Enn Metsar vom estnischen Wirtschaftsministerium sagt: "Im Moment ist die estnische Biotechnologie noch recht unbedeutend für die estnische Wirtschaft. Aber wir investieren in diesen Bereich, weil wir glauben, dass es die Technologie der Zukunft sein wird. Vielleicht nicht in fünf, sondern in zehn oder 15 Jahren."