Am 26. März wird die Rada, das ukrainische Parlament neu gewählt. Eine besondere Wahl: Nach der politischen Reform des vergangenen Jahres bestimmt nicht mehr der Präsident, sondern das neue Parlament den Premierminister und seine Regierung. Der neue Premier wird also nicht mehr vom Präsidenten abhängig sein. Um 450 Sitze bewerben sich 45 Parteien, der "Block Julia Timoschenko", kurz "Bjut", gilt als einer der aussichtsreichsten. Timoschenko selbst ist fest entschlossen, wieder Regierungschefin zu werden.
2004 war die 45-Jährige die engste Revolutionsgefährtin von Viktor Juschtschenko. Sie wurde wegen ihres Charismas und ihrer Courage als ukrainische Jeanne d'Arc gefeiert. Jetzt ist Timoschenko zur Symbolfigur für den Zwist der Demokraten und den neuen Wirrwarr in der ukrainischen Politik geworden. Ihr "Bjut" kandidiert nicht nur getrennt von Präsident Juschtschenkos "Unsere Ukraine", die streitbare Schönheit und ihre Propagandisten lassen kein gutes Haar an den ehemaligen Kampfgenossen.
Bezeichnend ist das Büchlein "Julia töten", das in einer Auflage von 800.000 Exemplaren kursiert: Eine schwarz-weiß gemalte Märtyrerlegende, in der Julia eine aufrechte, für das Volk und sein Glück streitende und leidende Heilige spielt, eingekreist von einem Rudel korrupter Machiavellisten, die die leicht geänderten Namen enger Mitarbeiter des Präsidenten tragen. "Unsere Ukraine" konterte gesittet, aber eher langweilig mit einem Register von 15 Unwahrheiten, die Julia Timoschenko verbreite: So stimme es nicht, dass "Unsere Ukraine" insgeheim schon mit dem einstigen gemeinsamen Erzfeind verhandle, der "Partei der Regionen". Eine zweifelhafte Unwahrheit.
In der Rada kam es schon zu Handgreiflichkeiten zwischen Parlamentariern von "Bjut" und "Unsere Ukraine". Die Front zwischen den gespaltenen Demokraten ist zur Hauptkampflinie dieses Wahlkampf geworden.
Als lachender Dritter gilt Viktor Janukowitsch. 2004 erschien der damalige Premierminister und Präsidentschaftskandidat aus der Industrieregion Donbass als Verkörperung der Konterrevolution, als Kandidat der korrupten Oligarchie, außerdem als antiwestlicher Favorit Wladimir Putins. Aber die Klanwirtschaft hat auch das erste Jahr unter Juschtschenko gut überlebt.
Es gilt als ein offenes Geheimnis, dass fast alle Parteien komfortable Listenplätze an gut zahlende Magnaten verkaufen. Selbst auf der Wahlliste des Timoschenko-Blockes tauchen Namen von Bankiers und Geschäftsleuten auf, die immer als Oligarchen gehandelt wurden. Dabei verspricht Timoschenko bei jeder Gelegenheit, die Korruption mit Stumpf und Stil auszurotten.
Janukowitsch paktiert weiter mit dem Dollarmilliardär Rinat Achmedow, dem Chef des Donbasser Indus-trieklans, der diesmal selbst für die Rada kandidiert. Janukowitsch wirft niemandem vor, er habe sich, seine Sache oder seine Gefährten verraten. Und seine "Partei der Regionen" führt nach den letzten Meinungsumfragen.
Die Erhebungen fallen allerdings sehr unterschiedlich aus: Die "Partei der Regionen" liegt zwischen 21 und 35 Prozent. Sollte sich letztere Zahl bewahrheiten, wären das mehr Wählerstimmen, als die entzweiten "Orangen" zusammen bekommen: Juschtschenkos "Unsere Ukraine" liegt bei etwa 16 Prozent, Timoschenkos "Bjut" bei 14 bis 15 Prozent. Auch Sozialdemokraten und Kommunisten sollten die Drei-Prozent-Hürde sicher meistern, die "Grünen", die vom Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko angeführte orange Jugendbewegung "Pora" und der Wahlblock des für seine Wendigkeit berühmten Parlamentsvorsitzenden Wladimir Litwin haben ebenfalls Chancen auf den Einzug ins Parlament.
Timoschenko erklärt immer wieder, den Umfragen sei nicht zu trauen, am Ende werde ihr Block siegen. Juschtschenko und sein Premier Jurij Jechanurow, der die Wahlliste von "Unsere Ukraine" anführt, versuchen es mit aggressiver Außenpolitik. Kiew betreibt weiter Konfrontationskurs gegen Russland: Nach dem weihnachtlichen Gaskrieg mit Russland und dem folgenden Streit um die Nutzung von Leuchttürmen auf der Krim blockiert die Ukraine nun den Güterverkehr an der Grenze zu Transnistrien. Die Begründung: der Kampf gegen den Schmuggel. Transnis-trien, eine ostslawische Enklave in Moldawien, ist ein halblegales Mündel Russlands, das dort seine 14. Armee stationiert hat. Beobachter in Moskau wie in Kiew betrachten die ukrainische Zollblockade also als ein Affront gegen den Kreml, dessen lärmende Reaktion offenbar die prowestliche Klientel der Orangen mobilisieren soll. Wobei Russland mit seiner Gaspreiswucherei das Seinige getan hat, um die Russophobie selbst im russischsprachigen Osten der Ukraine anzuheizen. Viele Beobachter glauben, die "Partei der Regionen" könnte noch besser abschneiden, wenn sich Janukowitsch entschiedener von Moskau distanzierte. Aber selbst wenn der Ex-Premier 35 Prozent der Stimmen gewänne, darf er nicht sicher sein, wieder an die Stirnseite des Kabinetttisches zurückzukehren. Auch wenn er sich mit den Kommunisten und ein oder zwei anderen Kleinfraktionen einigen kann, bleibt es fraglich, ob das zur absoluten Mehrheit im Parlament ausreicht.
Die Demokraten dürfen in der neuen Rada mit der Unterstützung der Sozialisten und von "Pora" rechnen. Vielleicht auch mit der Fraktion des Wendehalses Litwin. Aber um überhaupt eine Chance auf eine Regierungsmehrheit zu haben, müssten sich Jusch-tschenko und Timoschenko wieder versöhnen. Und "die eiserne Lady der Ukraine" lässt schon im Wahlkampf keinen Zweifel, dass sie jedem Kabinett vorsitzen will. So lautstark wie sie diesen Führungsanspruch mit Korruptionsvorwürfen an Juschtschenkos Umgebung koppelt, käme ihre Neuernennung einer persönlichen Kapitulation des Staatsoberhauptes vor Timoschenko gleich. Es gilt fast als wahrscheinlicher, dass Juschtschenkos "Unsere Ukraine" allen Beteuerungen zum Trotz doch mit dem einstigen Erzfeind, mit Janukowitschs "Partei der Regionen" verhandeln wird. Janukowitsch selbst hat erst vor wenigen Tagen erklärt, er könne sich durchaus eine Einigung mit "Teilen der Orangen" vorstellen.
Das Ergebnis wäre eine Große Koalition sehr ukrainischer Gestalt: Prowestliche Revolutionäre und prorussische Konterrevolutionäre an einem Tisch. Die Pragmatiker Juschtschenko und Janukowitsch mögen sich durchaus über das wirtschaftspolitische Tagesgeschäft einigen. Aber der von den Orangen heftig angestrebte EU-Beitritt müsste ganz neu diskutiert werden.
Dem großen Hauen und Stechen im Wahlkampf werden also heftige Intrigen bei der Mehrheitsbildung in der neuen Rada folgen. Vierte und exotischste Variante wäre ein Bündnis zwischen Janukowitsch und Timoschenko. Beobachter in Moskau und in Kiew weisen darauf hin, dass Timoschenko in jüngster Zeit mehrfach in Moskau war, sich dort auch mit dem russischen Präsidenten Putin getroffen haben soll, dessen Staatsfernsehen weiter massiv Janukowitsch unterstützt. Timoschenko selbst sagt, sie würde eher in einem UFO davonfliegen, als mit Janukowitsch zu koalieren. Aber in der ukrainischen Politik gilt nichts als unmöglich.
Auf dem Unabhängigkeitsplatz von Sumi schneit es weiter. "Diese Arbeit die Hölle zu nennen", beklagt sich Timoschenkos heiseres Echo, "bedeutet noch gar nichts". Die Revolutionsheldin beklagt ihr schweres Amt als Regierungschefin unter Juschtschenko. "Ich glaube ihr", sagt ein Zuhörer in einer Anorakkapuze. "Der?", staunt sein Nachbar. "Die hat als Premiermi-nisterin doch auch nichts erreicht!" - "Weil sie daran gehindert wurde, etwas zu erreichen." Die Anorakkapuze gibt sich nicht geschlagen. "Ach, das hat schon Gorbatschow von sich behauptet. Überhaupt, was ist heute für ein Hundewetter!" "Ja, das Wetter ist miserabel. Komm, lass und was trinken gehen." Zum Glück sind die Ukrainer wesentlich kompromissfähiger als ihre Politiker.