Das Parlament: Wie schwer oder leicht fällt es Frauen, eine späte Abtreibung nach der medizinischen Indikation - also beispielsweise, wenn die Frau durch die Behinderung des Kindes besonders schwer belastet würde - vornehmen zu lassen?
Anke Rohde: Der Schwangerschaftsabbruch aus einer medizinischen Indikation heraus fällt den Frauen in der Regel nicht leicht, weil es sich in den meisten Fällen ja um ein gewolltes Kind handelt. Diese Frauen erwarten, dass bei der Pränataldiagnostik herauskommt, dass alles in Ordnung ist. Für die meisten Betroffenen ist es ein großer Schock, wenn das nicht so ist. Ein Abbruch ist dann für viele ein einschneidendes und kritisches Lebensereignis, das sie noch lange danach beschäftigt.
Das Parlament: Tauchen bei Frauen, die einen späten Abbruch haben vornehmen lassen, Probleme auf?
Anke Rohde: Wenn sie eine gute psychosoziale Beratung hatten, verkraften sie den Abbruch in der Regel relativ gut. Sie bekommen meist keine schweren Depressionen, Ängste oder andere Folgeschäden. Vorübergehend geht es ihnen aber oft sehr schlecht. Pränatalmediziner können eine psychosoziale Betreuung nicht leisten, weil es eine zusätzliche Kompetenz erfordert. Wir kennen Fälle, wo Frauen nicht beraten worden sind, ganz schnell Entscheidungen getroffen haben und hinterher in schwere Depressionen gefallen sind. Manchmal bestehen noch Jahre später ausgeprägte psychsomatische Beschwerden wie etwa Kopfschmerzen oder Schlafstörungen.
Das Parlament: Passiert es, dass Frauen, die sich wegen einer Behinderung des Kindes zum Schwangerschaftsabbruch entschlossen haben, diesen Schritt später bereuen?
Anke Rohde: Es gibt Frauen, die es bereuen und sagen, ich würde das heute anders entscheiden. Selbst bei einer gut gelaufenen Beratung sind bei den Frauen immer auch Zweifel da, ob ihre Entscheidung richtig gewesen ist. Die Frauen, die sich schnell und ohne Beratung entschieden haben, geraten allerdings viel eher in einen Strudel von Panik und Bedauern. Deswegen sagen alle, die etwas davon verstehen, dass wir auf jeden Fall eine psychosoziale Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch brauchen. Leider ist das in den bisherigen gesetzlichen Vorschriften nicht vorgesehen.
Das Parlament: Sie plädieren also für eine Pflichtberatung?
Anke Rohde: Bei einer Pflichtberatung ist oft das Problem, dass es nur um das Abhaken von Vorgängen geht, damit die Frauen ihre Bescheinigung bekommen. Wenn eine Patientin sagt, ich will keine Beratung, muss die Freiheit dazu da sein. Ich plädiere dafür, dass keine Stelle Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Indikation durchführen darf, ohne dass den Frauen oder Paaren routinemäßig ein psychosoziales Beratungsangebot gemacht wird. Zwang ist nicht nötig, denn die Frauen nehmen das Angebot zur Beratung in der Regel sehr gerne an.
Das Parlament: Nicht jede Frau darf nach der medizinischen Indikation ein behindertes Kind abtreiben, sondern nur, wenn schwere Belastungen für die Frau zu erwarten sind...
Anke Rohde: Das ist die Krux mit der derzeitigen Gesetzeslage. Das Gesetz sagt, dass die zu erwartende Belastung der Mutter ausschlaggebend ist, was bedeuten würde, dass man bis einen Tag vor der Geburt einen Abbruch machen darf. Leider gibt es keine wirklichen Richtlinien, wie diese Belastung festgestellt werden kann oder muss. In der Realität ist es meist der einzelne Pränatalmediziner, der die zu erwartende psychische und gesundheitliche Belastung der Mutter einschätzen muss. Wie viel Raum da für subjektive Bewertungen ist, kann man sich vorstellen. Die aktuelle gesellschaftliche Dis-kussion hat zu einem kritischeren Umgang besonders mit so genannten Spätabbrüchen geführt. Davon spricht man, wenn die Lebensfähigkeit des Kindes ab der 22., 23. Woche gegeben ist und die Tötung des Kindes - der Fetozid - vor dem Abbruch erfolgen muss.
Das Parlament: Sind die späten Abbrüche auch für die Ärzte ein Problem?
Anke Rohde: Die Ärzte tragen einen Teil des Problems. Die individuelle Entscheidung kann sehr unterschiedlich sein. Manche machen es gar nicht, andere nicht mehr in einem späten Stadium oder bei einer bestimmten Art der Behinderung. Es kann kein Arzt gezwungen werden, den Abbruch selbst durchzuführen. Es gibt sehr viel Uneinheitlichkeit und Subjektivität beim Vorgehen, weil das Gesetz so "weich" geregelt ist. Die große Freiheit, die der Paragraf 218 in diesem Bereich derzeit gibt, bringt letztlich alle Beteiligten in Schwierigkeiten.
Das Parlament: Was müsste sich gesetzlich ändern?
Anke Rohde: Wenn der Gesetzgeber dafür sorgen würde, dass Pränataldiagnostik zur Feststellung von Fehlbildungen nur in spezialisierten Zentren durchgeführt und Behinderungen somit frühzeitig festgestellt würden, hätten wir viele Problemfälle nicht, die in höheren Schwangerschaftswochen deutlich werden - dann, wenn das Kind schon lebensfähig ist. Wenn es eine Konzentration auf solche spezialisierten Zentren und das Geld für eine vernünftige psychosoziale Beratung gäbe, wären viele Probleme gelöst. Wir hätten auch schon sehr viel gewonnen, wenn die Pränatalmediziner sich offen austauschen würden und es klare Beratungs- und Handlungsrichtlinien gäbe. Die Fachgesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat schon erste Richtlinien festgelegt.
Das Parlament: Für wie wichtig halten Sie die Forderung, dass zwischen Diagnose und Schwangerschaftsabbruch drei Tage Bedenkzeit liegen sollten?
Anke Rohde: Das sollte selbstverständlich sein. Es ist sinnvoll, um Augenblicks- und Bauchentscheidungen zu verhindern, die dann später sehr schnell in Frage gestellt werden. Die Entscheidung, die mit guter Beratung und Bedenkzeit stattgefunden hat, ist fundierter und die Betroffenen müssen sich hinterher nicht fragen, ob sie alles bedacht haben.
Das Parlament: Gibt es soziale Faktoren wie die finanzielle Situation, die die Entscheidung für oder gegen einen Abbruch beeinflussen?
Anke Rohde: Es ist mehr die Art der Behinderung, die die Entscheidung beeinflusst. Wir haben die höchste Abbruchrate bei Störungen, die mit einer geistigen Behinderung einhergehen. Geistige Behinderung macht mehr Angst als Organschäden wie ein Herzfehler oder Nierenfehlbildungen.
Das Parlament: Müsste sich das gesellschaftliche Klima so ändern, dass behinderte Kinder stärker akzeptiert werden, damit es gar nicht zu solchen Abbrüchen kommt?
Anke Rohde: Es ist schon ein gesellschaftliches Problem, dass Behinderungen kaum noch vorkommen und immer weniger selbstverständlich dazu gehören. Deswegen müssen Eltern, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden, manchmal ganz schön Spießruten-Laufen. Gerade im Zusammenhang mit der Tendenz, immer weniger Kinder zu haben und sie immer bewusster zu planen, wird es wichtiger, dass dieses eine Kind den Vorstellungen entspricht. Der Trend geht in Richtung "der perfekte Mensch".
Das Interview führte Ulrike Schuler