Dass ausländische Gäste vor dem Bundestag sprechen, ist eine große Ausnahme: Bevor Nelson Mandela am 22. Mai 1996 im Bonner Plenarsaal an das Rednerpult trat, hatten dies vor ihm erst vier Präsidenten anderer Staaten getan - die amerikanischen Präsidenten Richard Nixon (1969) und Ronald Reagan (1982), der französische Staatspräsident Francois Mitterand (1983) und der damalige Israelische Präsident Ezer Weitmann (1996). Schon deshalb war dieser 22. Mai ein historischer Tag - das aber gleich in mehrfacher Hinsicht.
Kaum zwei Jahre war es her, dass Mandela bei den ersten freien Wahlen nach Abschaffung der Apart-heidgesetze zum ersten schwarzen Präsidenten der Republik Südafrika gewählt wurde - ausgerechnet der Mann, der wegen seines Kampfes gegen die Apartheid über 27 Jahre im Gefängnis sitzen musste. Mit seiner Freilassung am 11. Februar 1990 nahm der gesellschaftliche Aufbruch in Südafrika seinen Anfang.
Lange Zeit war Mandela der berühmteste Gefangene der Welt. Als er nun vor hunderten deutschen Abgeordneten sprach, dankte der Friedensnobelpreisträger den Deutschen zunächst für ihre Unterstützung im Kampf gegen die Apartheid: "Die Erkenntnis, dass alle gleich sind und niemand etwas Besseres oder Schlechteres verdient, veranlasste Millionen deutscher Menschen, für den Freiheitskampf in Südafrika zu geben, großzügig zu geben - nicht aus Mitleid, sondern weil sie wussten, dass unser Sieg auch ihr Sieg sein würde." Auch hob er den Beitrag Deutschlands zur südafrikanischen Verfassung hervor, die kurz vor der Auslandsreise Mandelas feierlich verabschiedet wurde und eine "neue Ära" einleiten sollte. Mit Blick auf den 47. Jahrestag des deutschen Grundgesetzes forderte er: "Feiern wir mit der Menschheit das Wunder der Schöpfung, dass das Beste aus dem Schlimmsten entstehen kann." Mit Hilfe des Marshall-Plans sei Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg "wie Phönix aus der Asche" wiederauferstanden - "etwas ähnliches", sagte Mandela, wünsche er sich von der Internationalen Gemeinschaft auch für Südafrika. "Der Gipfel, den wir erreicht haben, hat uns erst den Blick auf die wirkliche Spitze eröffnet, die in der Ferne schimmert", begründete er seine Forderung.
In der Tat hatte das südafrikanische Land wirtschaftlich und politisch einen steilen Weg hinter sich gebracht: Von einem Apartheidsregime hin zu einer Demokratie, die allen Bevölkerungsgruppen die gleichen Rechte zuwies. Viele sprachen damals vom "südafrikanischen Wunder". Mandela hatte wesentlich zu diesem Wandel beigetragen. Nach seiner Haftentlassung verhandelte er mit der südafrikanischen Regierung über politische Reformen und erreichte, dass 1991 das letzte Apartheidgesetz abgeschafft wurde. Das System der Rassentrennung war damit zumindest seiner rechtlichen Basis beraubt. Von 1994 bis 1999 war er Staatspräsident des Landes. Um die Menschenrechtsverletzungen in Südafrika aufzuklären, setzte seine Regierung 1996 eine "Wahrheitskommission" ein, die geständigen Tätern Amnestie gewähren konnte. "Wir suchen nach der Wahrheit, weil wir um ihre tiefen Heilungskräfte wissen, weil die Saat zur Versöhnung und nicht zur Rache aufkeimen wird…", kommentierte Mandela diesen Schritt vor den Parlamentariern. 1999 zog sich der damals 81-Jährige schließlich aus der aktiven Politik zurück.
Die Rede Nelson Mandelas vor dem Deutschen Bundestag war der Höhepunkt seines dreitägigen Deutschlandsbesuches vom 21. bis 23. Mai 1996. Treffen mit Regierungsvertretern, der Opposition und aber vor allem mit Spitzenmanagern der deutschen Wirtschaft standen auf seiner Agenda. Die Bundesrepublik ist bis heute einer der wichtigsten Wirtschaftspartner des Landes. Bundeskanzler Helmut Kohl versprach Mandela, sich für einen ausgewogenen Abschluss des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Union und Südafrika einzusetzen.
Mandela wurde damals gefeiert wie ein Popstar: Selten wurde ein Staatsgast so herzlich begrüßt, wie er. Immer wieder musste er sogar Autogramme geben - ungewöhnlich für einen Politiker. Bundespräsident Roman Herzog nannte seinen Gast denn auch ein "Vorbild für die ganze Welt". Und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth zeigte sich beeindruckt von dem "Mut" Südafrikas, "etwas Neues zu wagen". Sie stellte fest: "Manches davon könnten auch wir in Deutschland von Ihnen und Ihren Landsleuten lernen". Übrigens: Unter www.bundestag.de kann man sich eine Videoaufzeichnung der Rede Mandelas vor dem Bundestag ansehen - auch zehn Jahre später ist sie noch immer ein beeindruckendes historisches Dokument.