Mit dem Rechtskonservativen Shinzo Abe hat in Japan erstmals ein Mann die Regierungszügel übernommen, der der Nachkriegsgeneration angehört. Der erst 52 Jahre alte Shooting-Star der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) hat sich bisher vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik profiliert, zu wirtschaftlichen Themen ist dagegen bislang von ihm noch wenig Konkretes zu hören gewesen. Da Abes steiler Aufstieg nicht ohne die Protektion seines politischen Ziehvaters und Vorgängers Junichiro Koizumi denkbar gewesen wäre, ist ein radikaler Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik nicht zu erwarten. Angesichts des Mangels an konkreten Aussagen in Sachfragen sowie der Tatsache, dass bereits nächstes Jahr Oberhauswahlen anstehen, befürchten Kritiker jedoch, dass die von Koizumi mit viel Elan auf den Weg gebrachte Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik an Schwung einbüßen könnte. Zwar spricht sich Abe für eine Fortsetzung der marktwirtschaftlichen Strukturreformen sowie eine weitere Kürzung der Staatsausgaben aus. Dazu gehört auch die schwere Aufgabe einer Eindämmung der massiven Staatsverschuldung, die bereits mehr als 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht hat und die Handlungsspielräume der Regierung von vornherein einschränkt.
Wie er diese Aufgaben konkret angehen will, ist vorerst unklar. Das gleiche gilt für die Frage, wie die von Koizumi auf den Weg gebrachten Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen angesichts des im Land wachsenden Unmuts über die zunehmenden Unterschiede bei den Einkommen und Lebensverhältnissen sozial abgefedert werden können. Eine weitere drängende Aufgabe ist der Umbau des Sozialstaats. Doch noch hält sich Abe mit Blick auf die Wahlen zum Oberhaus, wo seine Regierungspartei LDP keine eigene Mehrheit hat, mit konkreten Aussagen zurück.
Dass sich Abe und seine Regierung dennoch zu Beginn ihrer Arbeit laut Umfragen japanischer Zeitungen Zustimmungswerten bei Wählern zwischen 63 und 71 Prozent erfreuen - auch wenn dies weniger ist als die über 80 Prozent bei Koizumis Amtsbeginn - liegt vornehmlich an Abes "frischem" Image. Wenn es allerdings um die politischen Prioritäten geht, scheint es eine Kluft zwischen den Erwartungen der Wähler und Abe zu geben. So will die Mehrheit der befragten Wähler, dass sich der neue Premier in erster Linie um die Reform der sozialen Sicherheitssysteme kümmert, während Abes eigene bisherige Schwerpunkte eine Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassung, eine umfassende Erziehungsreform und die Außen- und Sicherheitspolitik sind.
Indem er den bisherigen Außenminister Taro Aso im Amt behielt, signalisiert Abe in außenpolitischer Hinsicht Kontinuität. Zwar gilt Aso als nationalistischer Falke. Andererseits sieht er die Notwendigkeit einer Verbesserung der angespannten Beziehungen zu China und Südkorea. Vor allem wegen der wiederholten Besuche Koizumis am umstrittenen Yasukuni-Schrein für Japans Kriegstote, in dem auch Kriegsverbrecher geehrt werden, hatten sich die Beziehungen zu den Nachbarn drastisch verschlechtert. Als Folge verweigerte China jahrelang ein Gipfeltreffen mit Koizumi. Doch nun laufen hinter den Kulissen Bemühungen, den Weg für ein Spitzentreffen zwischen Japans neuem Regierungschef und Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao zu ebnen. Dazu soll es möglicherweise im Oktober kommen. Kurz nach seiner Wahl telefonierte Abe zudem mit dem südkoreanischen Präsidenten Roh Moo Hyun und verständigte sich mit ihm auf ein ebenfalls baldiges Treffen.
Abe weiß, dass allein schon in wirtschaftlicher Hinsicht stabilere Beziehungen mit Japans größtem Handelspartner China wichtig sind. Dabei spielt jedoch noch ein weiterer Aspekt eine signifikante Rolle: die Sicherheitsallianz mit den USA. Der Bush-Regierung ist an einer strategischen Partnerschaft mit China gelegen. Wenn Japan für die USA also der Mittelpunkt ihrer Asienpolitik bleiben will, dann muss es sein Verhältnis zu China zumindest soweit in Ordnung bringen, dass es in den USA nicht als Belastung und Gefahr einer längerfristigen Destabilisierung der gesamten Region empfunden wird. Zwar konnte unter Koizumi das Verhältnis zu den USA dank seiner engen Beziehung zu US-Präsident George W. Bush und der aktiven Unterstützung für die militärischen Aktivitäten der USA in Afghanistan und im Irak neu belebt werden. Die gar nicht so lange zurückliegenden Sorgen in Tokioter Regierungskreisen über ein "Japan passing" in Washington sind angesichts dieser Entwicklung fast schon in Vergessenheit geraten. Doch eine Selbstverständlichkeit ist die Fortsetzung eines solch warmen Verhältnisses nicht. Abe ist wie Koizumi an einer engen Allianz mit dem militärischen Bündnispartner USA gelegen. Zum Chef des Verteidigungsamtes machte er daher den erfahrenen Fumio Kyuma, der dieses Amt schon in den 90er-Jahren innegehabt hatte. Er soll daran arbeiten, aus seiner Behörde ein vollwertiges Verteidigungsministerium zu machen. Zudem will Abe die Rolle des Militärs stärken und kollektive Sicherheitseinsätze ermöglichen. Künftig soll Japan ein ebenbürtigerer Partner im Sicherheitsbündnis mit den USA werden und selbstbewusster auf weltpolitischer Bühne seine Interessen vertreten.