Eine Welle von Vertragsverletzungsverfahren kommt auf die Mitgliedstaaten zu. Die Arbeits- und Sozialminister konnten sich am 7. November auf einem Sondertreffen in Brüssel auch beim fünften Versuch nicht einigen, wie sie die Arbeitszeitrichtlinie verändern wollen, damit sie in Einklang mit den nationalen Tarifvereinbarungen steht. In den meisten Mitgliedstaaten werden Bereitschaftsdienste nicht als Arbeitszeit gewertet. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte in mehreren Urteilen festgestellt, dass das mit dem derzeit geltenden EU-Recht nicht vereinbar ist. Zwar sind sich die Minister einig, dass sie in der neuen Richtlinie Arbeitszeit und Bereitschaftszeit trennen wollen. Doch sie streiten sich weiter, unter welchen Bedingungen die EU-weite Höchstarbeitszeit von 48 Wochenstunden überschritten werden darf.
In einem Grundsatzurteil im Jahr 2000 hatten die Richter entschieden, dass Bereitschaftsdienste zwar nicht voll bezahlt werden müssen, aber als Arbeitszeit anzusehen sind. Bei der Berechnung der EU-weit geltenden Höchstarbeitszeit von 48 Wochenstunden müssen sie voll berücksichtigt werden. Im Jahr 2003 gab das Europäische Gericht damit dem Kieler Arzt Norbert Jäger Recht, der seine Bereitschaftszeiten im Krankenhaus als Arbeitszeit gewertet wissen wollte. Deutschland müsse sein Arbeitsrecht an diese Vorgabe anpassen, verlangte damals der EuGH.
Deutschland hat sein nationales Arbeitszeitgesetz inzwischen so geändert, dass Bereitschaftszeit zwar mitgerechnet wird, die Tarifparteien aber eine Wochenarbeitszeit vereinbaren können, die über die laut EU-Richtlinie zulässigen 48 Stunden hinausgeht. Ein solches "Opt-Out" müsste aber auch auf europäischer Ebene verankert werden, sonst ist das deutsche Gesetz nicht vertragskonform. Die finnische Ratspräsidentschaft hatte nach mehreren gescheiterten Sitzungen einen Sonderrat einberufen und einen Vorschlag gemacht, der den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der Arbeits- und Ruhezeiten viel Spielraum lassen würde. Die dafür nötige qualifizierte Mehrheit kam aber wieder nicht zustande.
Vor allem Frankreich wehrt sich gegen ein Gesetz, das von den Wählern als weiterer Beleg für ein neoliberales unsoziales Europa gewertet werden könnte. Deshalb sagte Premierminister de Villepin am vergangenen Montag, Ausnahmen von der 48-Wochenstunden-Regel seien nur akzeptabel, wenn sie zeitlich befristet gelten würden. Das sei eine "sehr wichtige symbolische Frage für das soziale Europa".
So sieht es auch die Mehrheit des Europaparlaments. Im Mai 2005 hatten die Abgeordneten in erster Lesung beschlossen, Ausnahmen von der 48-Stunden-Regel zwar zuzulassen, wenn sich die Tarifparteien einig sind. Doch drei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Arbeitszeitrichtlinie soll diese Sondererlaubnis wegfallen. Beim Thema Bereitschaftsdienst nimmt das Parlament eine noch arbeitnehmerfreundlichere Position ein als einige Mitgliedstaaten.
Paradoxerweise gehören auch Länder wie Frankreich, die den sozialen Kern der Arbeitszeitrichtlinie bewahren wollen, zu den 23 EU-Ländern, auf die nun ein Vertragsverletzungsverfahren zukommt. Laut einer Analyse der EU-Kommission sind in Griechenland, Spanien und Frankreich zwar die Arbeitszeitgesetze EU-konform. In der Praxis müssten Arbeitnehmer aber häufig mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten. Deutschland hat die EU-Kommission nun aufgefordert, bis zur nächsten regulären Sitzung der Arbeits- und Sozialminister am 1. Dezember einen neuen Vorschlag vorzulegen. Er soll die Frage von Höchstarbeitszeiten und Übergangsfristen aussparen und lediglich festlegen, dass Bereitschaftszeiten künftig nicht mehr als Arbeitszeit gezählt werden.