Der Abend begann wohl ganz nach seinem Geschmack. Das offizielle politische Personal kam kaum mit. Schnurstracks von hinten durch die Mitte kam Wolf Biermann zur Bühne. Während Bundestagspräsident Norbert Lammert seinen Gast an einem der Seiteneingänge des Paul-Löbe-Hauses suchte, lief der Liedermacher schnörkellos über den Teppich nach vorne und keiner merkte es. Höchstens sahen sie sein orangefarbenes Hemd im Augenwinkel. Dann drehte er sich mit einem schelmischen Grinsen um, als wolle er sagen: Hier bin ich doch!
In seiner Rede nannte der Bundestagspräsident Biermann dann einen Helden, und mit bewusster Übertreibung sogar eine Reinkarnation Heinrich Heines. Heine war verboten, Biermann auch. Beide seien sie Interpreten eines schwierigen Vaterlandes, Provokateure, Gesinnungsbrüder. Von so einem darf oder vielmehr muss man unangenehme Wahrheiten erwarten
An diesem letzten Mittwoch im November stand er eingeladen vom Deutschen Bundestag im Zentrum der deutschen Politik und brachte ein schönes Biermannsches Heine-Programm mit dem unvermeidlichen Titel "Denk ich an Deutschland…" mit. Aber Wolf wäre nicht Biermann, wenn er sich nicht auch darüber hermachen würde. Nicht über Heines Verse, ein bisschen höchstens, aber vor allem über die unwürdige Zitierweise dieser Zeilen, derer sich jeder Hinterbänkler bediene, ohne den genauen Inhalt zu kennen. Genau die das gerne sagen, würden nachts sehr gut einschlafen, von wegen "um den Schlaf" gebracht. Biermann kam also, um mit dem Adler ein Hühnchen zu rupfen. Auf dem scharf gefalzten Programmzettel stand programmatisch der Vers aus "Deutschland. Ein Wintermärchen": "Du hässlicher Vogel, wirst du einst mir in die Hände fallen; So rupfe ich dir die Federn aus und hacke dir ab die Krallen". Ganz so schlimm wurde es dann doch nicht. Biermann ging vor allem mit sich selbst ins Gericht und erklärte öffentlich, warum er kein Kommunist mehr sein könnte und was aus ihm geworden wäre, wenn er im Westen geblieben wäre, statt mit 17 Jahren in den Arbeiter- und Bauernstaat überzusiedeln. Dann wäre er DKP-Funktionär in Hamburg geworden mit zwei DDR-Reisen pro Jahr, einer als Kur vom Klassenkampf und einer für die Indoktrination. "Dann wäre ich verblödet", sagte Biermann. Und da alles mit der Hölle ende, könnten Leute wie er keine Kommunisten mehr sein. Er spüre einen Phantomschmerz, ein Gefühl, als ob ein Kinderglauben verloren gegangen wäre. Die persönlichen Erklärungen - in genug Selbstironie und Ehrlichkeit verpackt - waren die spannenden Momente des Abends.
Biermann sang eigene Lieder über seinen Hunger nach Heimat, über Freunde und Feinde, er sang Heine-Lieder und rezitierte auf seine eigene Art sein "Lebenselixier". Biermann fasziniert der Ton, den Heine in die Dichtung gebracht habe: die Ironie. Auf die seien andere Dichter seiner Zeit neidisch gewesen, die gebildeten Frauen umschwärmten ihn dafür. In der Germanistik der NS-Zeit wurde Heines Werk als "jüdisches Gestammel" abgetan.
An diesem Abend mit Biermann und Heine lernte man sie beide besser kennen. Den einen leibhaftig, wie er sang und spottete und dichtete, den anderen vor allem durch die Brille Biermanns. Der Liedermacher gab auch literarische Gebrauchsanweisungen mit und empfahl das "Mehrzweckgedicht" vom Glück als leichte Dirne. Er erlaubte sich liebevolle Seitenhiebe auf die "revolutionäre Angeberei" Heines, nahm die Zuhörer mit auf seine Spaziergänge über Friedhöfe und sang, wie er mit durchnässten Schuhen das Marmorgrab Heines in Paris besuchte. Auf dem Berliner Hugenottenfriedhof genieße er es immer wieder, dass die Genossen dem Dichter der DDR-Hymne, Johannes R. Becher, ausgerechnet einen seiner schlechtesten Verse in den Grabstein gemeißelt haben.
Biermann hat immer noch den Ruf eines Helden, und er kann begeistern mit seinem scharfen Zungenschlag. Seine unorthodoxen Gedanken überraschen, er ist frech und voller Anspielungen, was selbst bei den ganz jungen Menschen ankam, die sich an diesem Abend zahlreich im Publikum fanden. Der markante Biermann-Schnurrbart ist inzwischen angegraut und ausgedünnt. Das Bundesverdienstkreuz hat er kürzlich verliehen bekommen, kurz nach seinem 70. Geburtstag. Geboren wurde Biermann 1936 in Hamburg als Sohn eines jüdischen Werftarbeiters, der im kommunistischen Widerstand war. Das Grab seines Vaters sei dort, wo der Schornstein raucht.
Und auch Heine wäre, hätte er später gelebt, von den Nazis umgebracht worden. Aber, so Biermann, es gibt noch Gedichte nach Auschwitz, es gibt sogar lustige Lieder. "Wir sind eben so."