Bombenkrieg
Anthony Grayling macht Amerikanern und Briten den Prozess. Sein Urteil: Schuldig im Sinne der Moral
Waren die Flächenangriffe der Alliierten gegen deutsche und japanische Städte ein moralisches Verbrechen?", lautet die Frage des Buches "Die toten Städte" von Anthony C. Grayling. Eine Frage, die, wie der Autor treffend beschreibt, "eine der bedeutendsten noch ungelösten Kontroversen über den Zweiten Weltkrieg" umreißt. Die Debatte um Jörg Friedrichs Darstellung des Bombenkriegs in "Der Brand" hat nicht nur in Deutschland eine heftige Debatte ausgelöst. Dies sei ein Versuch aus dem Volk der Täter, ein Volk von Opfern zu machen, so Friedrichs Kritiker.
Nun meldet sich mit Grayling ein renommierter englischer Philosoph zu Wort. Und er geht einen erstaunlichen Weg: Er macht den alliierten Flächenbombardements den Prozess: Er schildert ein fiktives juristisches Verfahren. "Kann es Umstände geben - Notsituationen, Gefahrenlagen (…) - , die diese Angriffe rechtfertigen oder wenigstens entschuldigen?", fragt er und verteidigt gleichzeitig seinen kritischen Ansatz: "Es steht völlig außer Frage, dass, selbst wenn die alliierte Bomberoffensive (…) moralisch verwerflich gewesen sein sollte, dieses Unrecht auch nicht annähernd an die moralischen Ungeheuerlichkeiten des Holocaust (…) heranreicht."
Bevor Grayling in die eigentliche Verhandlung einsteigt, beschreibt er den Gegenstand des Prozesses, die Flächenbombardements der Alliierten gegen Deutschland: Die Briten setzten sehr früh auf einen strategischen Luftkrieg gegen deutsche Städte. Ein großer Teil des britischen Rüstungsbudgets wurde in den Aufbau einer Bomberflotte investiert. Während die Amerikaner nach dem Kriegseintritt ihre Luftkriegsstrategie in Europa auf Tag-Angriffe gegen Rüstungsziele ausrichteten, hielten die Briten daran fest, nachts Wohngebiete anzugreifen. Die Moral der Deutschen, ihr Wille zum Durchhalten, sollte durch pausenlose Angriffe gebrochen werden. Die englischen Techniker berechneten die wirkungsvollsten "Bomben-Mischungen": Sprengmunition sollte die Häuser abdecken und ihre leicht entzündlichen Dachstühle freilegen. In diese wurde durch Brandbomben Feuer gelegt. So entzündeten die englischen Piloten nicht nur Großbrände, sondern sie entfachten Feuerstürme. Dresden und Hamburg gingen darin unter.
An der Spitze der englischen Bomberflotte stand mit Arthur Harris ein Mann, der aus seinen Absichten kein Geheimnis machte: "Zusätzlich zu den Schrecken des Feuers wollen wir Boches [Deutsche] unter den Trümmern ihrer Häuser begraben, Boches umbringen und Boches terrorisieren", schrieb er ans Luftfahrtministerium. Auch als in den letzten beiden Kriegsmonaten abzusehen war, dass der alliierte Sieg kurz bevor stand, hielt Harris an den nächtlichen Angriffen fest. Mittelgroße Städte ohne jede strategische Bedeutung wie Würzburg oder Hildesheim wurden noch in den letzten Kriegstagen in Schutt und Asche gelegt. Die Bilanz der Flächenbombardements: Mehr als tausend Städte wurden mit anderthalb Millionen Tonnen Munition angegriffen. Dabei starben etwa 600.000 Menschen.
Grayling kritisiert vor allem diese Unverhältnismäßigkeit der Luftangriffe. "Die Tatsache, dass ein Krieg gerecht ist, rechtfertigt nicht automatisch jede Handlung, die in seinem Verlauf begangen wurde", schreibt er und kommt zu dem Schluss: "Die Anklage gegen die britischen und US-amerikanischen Flächenbombardements in Europa und Japan während des Zweiten Weltkrieges lautet demnach, dass sie ein Verbrechen im moralischen Sinne - ein eklatanter Verstoß gegen das Sittengesetz - waren."
Nach der Anklage ist die Verteidigung an der Reihe. Grayling führt Argumente für die Flächenbombardements an: "die Auswirkungen auf die feindliche Kriegsindustrie, die logistischen Schwierigkeiten für die Wirtschaft (…), die Tatsache, dass militärische Ressourcen von der Front ferngehalten wurden". Argumente, die sich leicht entkräften lassen: Diese Vorteile hätten die Alliierten auch erreicht, wenn sie statt auf Wohngebiete, ihre Bomben auf militärische Ziele oder Rüstungsbetriebe geworfen hätten. Entsprechend deutlich fällt Graylings Urteil aus: Die Flächenbombardements waren unnötig, unverhältnismäßig und widersprachen humanitären Grundsätzen, sie waren ein schweres Unrecht. Für Grayling ging es bei den Flächenbombardements im Kern um einen Angriff auf die Zivilbevölkerung, der darauf abzielte, "größtmöglichen Schaden, Schock, Zermürbung und Terror zu verursachen".
An dieser Stelle provoziert der Philosoph: Die Unterschiede zwischen britischen Vernichtungsangriffen auf Hamburg, den Atombombenabwürfen auf Japan und dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 erscheinen ihm "minimal". Die drei Beispiele seien ausnahmslos Gräueltaten, vorsätzliche Massenmorde an Zivilisten. Auch wenn der Autor hier zu pauschal urteilt und "mildernden Umständen" in seiner Darstellung nur wenig Raum einräumt, ist die Kernaussage seines Buches zutreffend: Die Flächenbombardements der Alliierten waren moralische Verbrechen. Das ändert nichts daran, dass die Alliierten einen gerechten Krieg gegen ein verbrecherisches Regime führten. Graylings Darstellung ist keine nüchtern-objektive Geschichtsschreibung. Er bezieht Stellung in einer Debatte, die durch sein Buch erneut angeheizt werden dürfte.
Wie lebten die Deutschen in den Jahren als Fliegeralarm, das Ausharren im Luftschutzkeller und das Versinken der Städte in Trümmer zum Alltag gehörten? Diese Frage hat Oliver Lubrich gestellt und sie von denjenigen beantworten lassen, die zu Gast in Hitlers Reich waren. "Berichte aus der Abwurfzone - Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939 bis 1945" heißt seinlesenswerter Sammelband.
Der Herausgeber, Dozent für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, lässt Autoren unterschiedlichster Herkunft zu Wort kommen: Korrespondenten wie William Shirer oder Louis Lochner, Kriegsberichterstatter wie Martha Gellhorn oder Edward Murrow, Diplomaten, Geschäftsreisende, Flüchtlinge und Kriegsgefangene, Gegner des Nazi-Regimes sind ebenso darunter wie Verbündete.
Was macht den Reiz des Blickwinkels dieser Außenstehenden aus? "Im Vergleich mit dem Vertrauten, im Unterschied zum Eigenen, vor dem Hintergrund ihrer Kenntnisse (…) können sie als auffällig, bemerkenswert oder befremdlich wahrnehmen, was viele Einheimische vielleicht nicht oder nicht in gleicher Weise sehen - oder sehen wollen. Reportagen können in diesem Sinne Kontrastaufnahmen sein, deren Qualität in einer besonderen Kontrastschärfe liegt", schreibt Lubrich. Die ausländischen Zeugen waren beim Verfassen ihrer Berichte weniger Zwängen und Versuchungen ausgesetzt. Sie mussten keine Rücksicht auf die eigene Führung nehmen, sahen sich nicht als Teil einer Opfer- oder Schicksalsgemeinschaft.
Die Zeugnisse, die Lubrich zusammengetragen hat, überliefern vor allem, welche Wirkung die Bombenangriffe auf die Deutschen hatten: "Hier kann man das wahre deutsche Volk kennenlernen. Wenn die Bomben fallen, fällt seine Maske ab", schrieb der Schwede Arvid Fredborg aus dem Luftschutzkeller. So berichtet der Korrespondent Wiliam Shirer über einen Disput mit seinem Zimmermädchen über die britischen Luftangriffe: ",Warum machen sie das?', fragte sie. - ,Weil ihr London bombardiert', sagte ich. - ,Ja, aber wir treffen militärische Ziele, während die Briten - sie bombardieren unsere Häuser.' Sie war ein wandelndes Zeugnis von der Wirksamkeit der Goebbelsschen Propaganda."
Anhand der Berichte erfährt der Leser, wie der Luftkrieg damals eingeschätzt wurde - "nicht mit dem nachträglichen Wissen des historischen Rückblicks". Erstaunlich, wie klar der Schwede Fredborg bereits 1943 das Scheitern der allierten Strategie prophezeite: "Viele Menschen reagieren mit tiefer Verbitterung, was sie noch unbeugsamer macht, (…). Es dürfte daher eine recht naheliegende Auffassung sein, dass die Moral der Bevölkerung durch Luftangriffe in gewissem Umfang eher gestärkt wird." Er sollte Recht behalten. Militärisch gesehen scheiterten die Bombenangriffe auf den Durchhaltewillen der Deutschen. Das Reich musste in einem konventionellen Feldzug am Boden mühsam niedergerungen werden.
Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939 bis 1945.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2007; 480 S., 30 ¤
Die toten Städte - Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen?
C. Bertelsmann Verlag, München, 2007; 414 S., 22,95 ¤