Wer Wissenschaft betreibt, erlebt es immer wieder: Ein Fach greift in das andere, wer sich nur mit einer Disziplin beschäftigt, dem bleiben wichtige Zusammenhänge und Erkenntnisse verborgen. "Mich interessiert das Interdisziplinäre", sagt folgerichtig Joachim Rickes, Referatsleiter in den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages. Er nennt ein Beispiel aus seiner Praxis: "Ist das iranische Atomprogramm zivil oder militärisch nutzbar? Das ist eine Frage nach Physik, nach internationaler Politik und nach Wirtschaftskraft", meint Rickes. Er ist zuständig für Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung, eines der elf Referate der Wissenschaftlichen Dienste, in dem rund 50 Mitarbeiter arbeiten.
Etwa 90 Prozent der Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages nehmen die Wissenschaftlichen Dienste in Anspruch, die anschaulich den Forschungs- und Wissensstand zu politischen oder juristischen, naturwissenschaftlichen oder technischen Fragen zusammentragen, egal ob es um die Details zum Klimaschutz in Europa geht oder um das Pro und Contra des elektronischen Reisepasses. Die Fakten werden so aufbereitet, dass die Abgeordneten die Hintergründe komplexer Themen verstehen. Die Antwort der Gutachter kommt bei einfachen Fragen schon nach einer Stunde. Ist die Fragestellung komplex, kann es auch drei Wochen dauern, bis ein manchmal 40-seitiges Gutachten auf dem Schreibtisch des Politikers liegt. "Die Sachkenntnis und das Detailwissen der Abgeordneten ist entgegen mancher Vorurteile hoch", sagt Rickes, der während des Gesprächs leichterdings von der Atomforschung zu Thomas Manns "Königlicher Hoheit" springt, seinem Habilitationsthema.
Rickes ist nämlich auch Privatdozent an der Berliner Humboldt-Universität. Im laufenden Semester hören 100 Studenten, was der Germanist zu Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" zu sagen hat. Ein Zufall? Auch da geht es um das Interdisziplinäre, den Entdecker Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Der eine erkundet die Welt, indem er sie erfährt, der andere, indem er sie ausrechnet.
Seit den Zeiten Humboldts und Gauß' hat die Forschung einen Quantensprung gemacht, die Wissensmenge vermehrt sich ständig, neue Herausforderungen entstehen durch Fortschritte in Forschung und Technik. Sie müssen begriffen werden - auch von der Politik. "Die muss immer schneller reagieren", kommentiert Rickes, der seit vier Jahren in seinem Referat arbeitet, die Zunahme des Tempos. Entsprechend steigt die Anzahl der Anfragen an die Wissenschaftlichen Dienste ständig. Der neueste Stand der Forschung fließt unmittelbar in die politische Diskussion und damit in die Gesetzgebung ein.
Rickes und seine Kollegen bilden eine Brücke zwischen Wissenschaft und Politik. Und auch hier gilt: Wissen ist Macht. Deshalb steht das Gutachten dem Bundestagsabgeordneten, der es in Auftrag gegeben hat, vier Wochen lang exklusiv zur Verfügung. Erst dann können auch andere Büros oder Fraktionen darauf zurück greifen. "Außerdem", so erzählt Rickes, "behandeln wir auf Wunsch auch vertraulich, wer was angefragt hat." Und wie ist das mit der Parteilichkeit? "Wir sind neutral", sagt Rickes, der schon Redenschreiber bei den früheren Bundestagspräsidenten Rita Süssmuth und Wolfgang Thierse war. Dass die eine in der Union, der andere bei den Sozialdemokraten ist, störte Rickes bei seiner Arbeit nicht. "Beide kommen aus der Wissenschaft und sind intellektuell anspruchsvoll", sagt er über seine früheren Chefs.
Für Rickes, der fließend Englisch und auch Französisch, Spanisch und Italienisch spricht, ist wie für die gesamten Wissenschaftlichen Dienste Europa gelebter Alltag. Die Dienste sind dem EZPWD angeschlossen, dem Europäischen Zentrum für Parlamentarische Wissenschaften. Wenn ein Abgeordneter eine Anfrage zum Klimaschutz in Litauen stellt, bitten die Deutschen ihre Kollegen im Baltikum um "Amtshilfe". Die recherchieren dann vor Ort. Klimafragen machen schließlich genauso wenig an Grenzen halt wie die Wissenschaft.